Die Brüder Merzbacher

„Vater und Hitler sind auch da“

Die Brüder Isaak und Carl Merzbacher kamen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts von Berlichingen nach Öhringen. Beide betätigten sich als Handelsleute.
Isaak Merzbacher (1855 – 1914) war mit Therese Gutmann aus Heinsfarth (1859 – 1917) verheiratet. Beide fanden ihre Ruhestätte auf dem jüdischen Friedhof in Öhringen. Aus ihrer Ehe haben zwei Kinder das Erwachsenenalter erreicht: Ida *1886, die später mit Ludwig Hirschheimer aus Lehrensteinsfeld in Straßburg und Heilbronn wohnte und drei Kinder hatte. Als einziger Sohn wurde 1890 Julius in Öhringen geborene, der spätere Arzt Dr. Julius Merzbacher, der unter tragischen Umständen seine Heimatstadt verlassen musste und wie seine Frau ermordet wurde.

Carl Merzbacher (geboren 1862) war mit Peppi Neumark (1870) aus Georgsgmünd verheiratet. Das Ehepaar wanderte 1936 über Stuttgart nach Brasilien aus, wo auch einer ihrer Söhne Zuflucht gefunden hatte. Sohn Hermann wurde 1892 und Sohn Siegfried 1898 in Öhringen geboren. Beide besuchten das Progymnasium und danach eine weiterführende Schule bis zum Abitur, beide studierten Jura und promovierten, beide nahmen am Ersten Weltkrieg teil und wurden verwundet. Der Kriegsfreiwillige Hermann war Unteroffizier, Bruder Siegfried Gefreiter mit dem EK II.

Deutschland, Verlustlisten im 1. Weltkrieg, 1914-1919 für Hermann Merzbacher

Dr. Hermann Merzbacher verließ Öhringen 1918, war zunächst als Hilfsrichter am Landgericht Heilbronn tätig, ließ sich 1924 in Heilbronn als Rechtsanwalt nieder und wechselte 1927 nach Stuttgart über, wo er und sein Bruder Dr. Siegfried Merzbacher eine gemeinsame Anwaltspraxis führten. Hermann Merzbacher wanderte 1936 nach Brasilien aus, dort fand er erst nach Jahren wieder eine Beschäftigung, arbeitete als Makler und starb 1957.

Deutschland, Index von Juden, deren deutsche Staatsbürgerschaft vom Nazi-Regime annulliert wurde, 1935-1944 für Hermann Merzbacher

Zu den besten Schülern des Öhringer Progymnasiums zählte Siegfried Merzbacher. Die Schulleitung zeichnete ihn dadurch aus, dass sie ihn für das Seyfried’sche Stipendium vorschlug. Nach dem Willen des Stifters sollte das Stipendium einem hiesigen Bürgersohn zufallen, „der mehr als zwölf Jahre alt und ein gottesfürchtiger Knabe ist und die Fähigkeit zum Studium hat.“

Erst 26 Jahre alt, ließ sich Dr. Siegfried Merzbacher als Rechtsanwalt in Stuttgart nieder. Er veröffentlichte verschiedene Arbeiten über das Grundstückswesen und war wesentlich an der Gründung des Reichsverbandes deutscher Makler für Hypotheken, Immobilien und Finanzierungen beteiligt und dessen Syndikus. Er schloß seine Praxis 1937, wanderte in die USA aus, wo er als Versicherungsagent arbeitete, aber schon 1940 im Alter von 42 Jahren starb. Seine aus Stuttgart stammende Frau Eleanor arbeitete im Zweiten Weltkrieg in einer Fabrik, um sich und ihre beiden Kinder Helen und Charles ernähren zu können.

Zu einer überraschenden Begegnung kam es in einem Kriegsgefangenenlager in Texas. Ein amerikanischer Offizier las im Soldbuch eines Kriegsgefangenen den Ortsnamen Pfedelbach und fragte ihn: „Kennen Sie Öhringen, kennen Sie auch einen Dr. Merzbacher?“ – „Ja, ja, der ist oft mit seinem Auto durch Pfedelbach gefahren, den kannte jeder, der hatte viele Patienten.“ Erst später erfuhr der deutsche Soldat aus Pfedelbach, er der amerikanische Offizier war: Charles Merzbacher, der Neffe von Dr. Julius Merzbacher.

USA Einberufungsregister für den zweiten Weltkrieg

Dr. Julius Merzbacher war um dies Zeit schon tot, in Majdanek ermordet. In Öhringen kam er 1890 zur Welt, besuchte das Progymnasium, war Klassenprimus, legte in Heilbronn mit Preis das Abitur ab und studierte Medizin. Freiwillig nahm er am Ersten Weltkrieg teil, kehrte als Oberarzt zurück und eröffnete 1919 in Öhringen seine Praxis. Mit Hilde Haymann aus Konstanz, 1898 geboren, schloß er 1923 die Ehe. Sohn Rudolf wurde 1924 und Sohn Werner 1928 geboren. Eine harmonische Familie, die in Harmonie mit den Öhringern lebte – bis 1933.

1937 wurde zum Schicksalsjahr der Familie. Von einem Jungen in Pfedelbach auf ungewöhnliche Weise beleidigt, ließ sich Dr. Merzbacher im Affekt zu einer Körperverletzung hinreißen, wegen der er in einem politischen Prozess zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. nach der Verbüßung der Strafe im Öhringer Gefängnis zog die Familie im Februar 1938 nach Konstanz um, der Heimatstadt von Hilde Merzbacher. es war ein Umzug, der über das Lager Gurs schließlich in den Tod führte.

Von Konstanz nach Gurs, dann über Rivesaltes nach Dancy und letztendlich nach Majdanek

Sohn Rudolf besuchte vier Jahre die Öhringer Volksschule und dann noch kurze Zeit das Progymnasium. 1936 führte sein Weg zu den Großeltern nach Konstanz und von dort in das schweizerische Kreuzlingen, wo er weiter zur Schule ging. Die Trennung von den Eltern und deren ungewisses Schicksal lastete schwer auf ihm. Als Emigrant kam er Anfang des Krieges vorübergehend in ein Arbeitslager, konnte dann aber 1942 eine Gärtnerlehre beginnen. Zwei Jahre später musste er zum ersten mal in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen werden und auch in den folgenden Jahren in stationärer psychiatrischer Behandlung bleiben.

Bruder Werner, der mit seiner Familie seit 1964 in der Schweiz lebt, besuchte seinen Bruder Rolf regelmäßig. Werner Merzbacher berichtet: Rolf freute sich über die Spazierfahrten, wollte immer in das gleiche Restaurant und das gleiche Essen. Bei solchen Anlässen sagte er: „Der Vater und Hitler sind auch da.“ Rolf Merzbacher starb 1983 an Krebs. begraben ist er auf dem jüdischen Friedhof von Davos.
Werner Merzbacher, Schüler des Progymnasiums, blieb be seinen Eltern in Öhringen bis zum Umzug nach Konstanz und ging hier bis 1938 in eine jüdische Schule. Anfang 1939 konnte er mit einem Kindertransport nach Zürich auswandern und wurde dort von einer Arztfamilie aufgenommen. Nach seiner schulischen Fortbildung in Zürich wanderte er 1949 nach den USA aus. dort leistete er seinen Militärdienst ab, arbeitete in einem Unternehmen der Peözbranche und kehrte 1964 nach Zürich zurück, wo er 1950 die Schweizerin Gaby Mayer geheiratet hat. Werner Merzbacher und seine Frau nahmen 1991 an der Eröffnung der Merzbacher-Straße teil, die seinem Vater gewidmet ist und dessen Namen für alle Öhringer Juden steht, die nazistischer Barbarei zum Opfer gefallen sind.

Beitragsbild oben: Rolf Merzbacher, Bildausschnitt aus der Krankenakte Staatsarchiv Thurgau