von Walter Meister
Was Bäuerinnen und Bauern unter Tränen erzählten…
Der gesamte Viehhandel der Gegend lag in jüdischen Händen“, hielt der frühere Stadtpfarrer Max Esenwein in seinen Aufzeichnungen (1933 bis 1948) fest („Der Nachwelt zur Lehr“, abgedruckt im „Ohrntaler Heimatbuch“, hgg. Von J. H. Rauser, Weinsberg 1982, S. 36). In der Tat: Im „Spezial-Taschen-Adressbuch“ von 1925 sind von den aufgeführten 28 jüdischen Geschäften in Öhringen allein 13 Vieh- und Pferdehandlungen. Zumindest auf dem Lande war das Bild vom „Juden“ stark von den Vorstellungen vom jüdischen Viehhändler bestimmt. Die Geschichte des jüdischen Viehhandels sammelt wie in einem Brennpunkt wesentliche Aspekte des Zusammenlebens von Juden und Christen gerade auch in unserer Gegend. Noch heute werden Schreckensgeschichten von um Haus und Hof gebrachten Bauern weitererzählt. Nachprüfbare Namen, Orte und Vorfälle können aber nicht genannt werden. Die folgende Darstellung möchte erklären, wie es zu diesen negativen Erinnerungen gekommen ist.
Der Viehhandel wird zur jüdischen Domäne
Von den Inhabern der 13 Viehhandlungen von 1925 sind nur drei in Öhringen geboren (Arthur Ledermann, Siegfried und Hermann Herz), allerdings sind immerhin schon sieben auf einer Wählerliste von 1890 zur Wahl des israelitischen Gemeindevorstands aufgeführt. Als Geburtsorte werden Ernsbach (4), Berlichingen (2), Olnhausen (2), Eschenau, Affaltrach und Crailsheim genannt. Bei der Untersuchung seines Heimatortes Berlichingen findet Simon Berlinger, dass sich um 1860 die meisten Juden vom Viehhandel ernährten, den sie in allen umliegenden Oberämtern betrieben (Simon Berlinger: „Synagoge und Herrschaft – Vierhundert Jahre jüdische Landgemeinde Berlichingen“, Sigmaringendorf 1991, S. 55). Der jüdische Viehhandel ist demnach schon auf den Dörfern entstanden und vor der Jahrhundertwende nach Öhringen verlegt worden. Ein Gutachten des „Vereins für Socialpolitik“ fasste 1882 zusammen: „Der jüdische Zwischenhändler hat sich als ein unentbehrliches Glied in den (Vieh-)Handel eingeschoben, so dass auf jüdische Feiertage fallende Viehmärkte in der Regel verlegt werden, denn bei dem Fehlen der jüdischen Elemente ist der Viehhandel flau“ (zitiert nach Utz Jeggle: „Judendörfer in Württemberg“, Reihe „Volksleben“ 23, Tübingen 1969, S.149, Anm. 410).
Da den Juden der Landerwerb lange verboten war (in Württemberg bis 1807) und die Zulassung zu den bürgerlichen Gewerben nur zögernd gestattet wurde (Württemberg ab 1809), ist es nicht erstaunlich, dass sich bei einer Erhebung der württembergischen Regierung im Jahr 1818 herausstellte, dass über 90% der Juden dem Handel nachging (Jeggle, S. 54). Da ferner auch die Juden in größerer Zahl nur in ganz bestimmten Dörfern wohnen durften (wofür sie eine jährliche Abgabe zahlen mussten), war der Wohnort als Markt für sie viel zu klein. Es blieb nur der Wanderhandel: Hausierhandel, Viehhandel, Trödelhandel – alles Tätigkeiten, die als „unproduktives Gewerbe“ und als „unehrlich“ galten.
Das „Erziehungsgesetz“ von 1828 machte ungewollt den Viehhandel in Württemberg vollends zu jüdischen Domäne. Dabei hatte man die besten Absichten und die richtigen Einsichten: Die Landjuden jener Zeit waren unbestreitbar in einem „beklagenswerten Zustand“, für den man jetzt auch die Verantwortung der Christen ganz richtig erkannte, denn „alle Sklaven-Völker sind tückisch und ungebildet, und wenn die Juden es sind, so trifft der Vorwurf nur ihre Unterdrücker“ (so der Abgeordnete Rummel bei der Debatte im Landtag um das „Erziehungsgesetz“, zitiert bei Jeggle, S. 108). Da man das entscheidende Übel im Schacherhandel sah, setzte das Gesetz an der Berufsstruktur an: Wer zehn Jahre den Feldbau oder ein Handwerk betrieben hatte, konnte das Bürgerrecht erhalten – wer Schacherjude blieb, konnte u.a. nur schwer den Wohnort wechseln, durfte vor allem aber erst mit 35 Jahren heiraten. „Die Umorientierung von 2600 Außenseitern in Staatsbürger“ hat 80% aller Juden an den Rand des Gesetzes gedrängt, nur weil sie lediglich das taten, was ihre Väter gezwungen gewesen waren zu tun (Jeggle, S. 110/111). Durch den erzwungenen Berufswechsel, so stellte ein Bericht der Ober-Kirchenbehörde von 1837 fest, sei auch der geringe Wohlstand der Israeliten größtenteils wieder versiegt (Jeggle, S. 152, Anm. 417).
Allerdings hatte das „Erziehungsgesetz“ ein Schlupfloch gelassen: Der Viehhandel galt nicht als Schacherhandel! Nach einer Statistik von 1861 waren deshalb im Jagstkreis von insgesamt 1133 Juden noch 172 trotz aller Schikanen offiziell im Schacherhandel, aber schon 215 im Viehhandel (Jeggle, S. 154).
Viehhändler in Öhringen
Der Weg über den Viehhandel erleichterte den Juden den Übergang vom einst aufgezwungenen und dann verfemten Schacherhandel zu bürgerlich anerkannten und einträglicheren Formen des Handels. Dieser Weg führte folgerichtig vom Dorf in die Stadt und zu einer besseren Schulbildung. Für Öhringen sprachen die regelmäßigen Viehmärkte am Mittwoch und Samstag, die zentrale Lage inmitten bäuerlicher Umgebung, der Eisenbahnanschluss besonders nach Heilbronn und nicht zuletzt die Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder. Für Akademiker wie z.B. die beiden Söhne des Viehhändlers Carl Merzbacher führte dann der Weg folgerichtig weiter in die Großstadt Stuttgart.
Annoncen im „Hohenloher Tagblatt“ sind Zeugnisse des mit Hilfe der Eisenbahn erweiterten Handels. Siegfried Herz zum Beispiel lädt am 11. Januar und wieder am 21. Juni 1926 zum Besichtigen „eines größeren Transports erstklassiger Rheinländer Pferde“ ein, die Gebrüder Hirsch weisen am 9. Juli 1932 auf einen „großen Transport rheinisch-belgischer Arbeitspferde sowie erstklassiger rhein. belg. Saugfohlen“ hin und gleich darauf bieten am 8. Juli 1932 Kahn und Levi einen „Transport erstklassiger Saugfohlen sowie schöne Zuchtstuten zum Verkauf“ an. Am 17. Februar 1933 sind an ein und demselben Tag ein Transport Kühe und Kalbinnen sowohl von Alfred Herz als auch von J. und L. Stern annonciert.
Die Viehhändler hatten meist einen festen Kundenstamm in einem bestimmten Geschäftsgebiet. So handelte zum Beispiel Julius Metzger vorwiegend in den Dörfern westlich und nördlich von Öhringen, von Schwabbach, Siebeneich und Langenbeutingen bis Unterohrn, Westernbach und Kirchensall. Er lieferte Schlachtvieh auf den Heilbronner Schlachthof, kaufte aber auch auf großen Viehmärkten auf Bestellung der Kunden.
Die drei größten Viehhandlungen hatten Louis Kahn mit seinem Teilhaber Hugo Levi, die Gebrüder Julius und Leopold Stern und Siegfried Herz. Ihr Einkommen vor 1933 lag weit über dem des angesehenen jüdischen Arztes Dr. Julius Merzbacher. Allerdings muss man berücksichtigen, dass sich die jüdischen Viehhändler auch als Geldverleiher und meistens auch als Immobilienmakler betätigten. Ganz gut verdient hatten auch Julius Metzger, die Gebrüder Hirsch und Alfred Herz. Arthur Ledermann dagegen hatte seinen Viehhandel 1929 aufgegeben und danach als Handelsvertreter besser verdient. Wohl auch altersbedingt bescheiden waren die Geschäfte von Adolf Ehrlich (1930 schon 65 Jahre alt) und Elias Heidenheimer (der 1930 schon 70 war). Auch August Thalheimer und Josef Westheimer hatten schon vor 1933 nur geringe Einkünfte.
Dass angesehene Geschäftsleute wie Julius Bloch, Joseph Schlessinger oder Richard Kauders ihre Kinder auf die höhere Schule schickten, ist nicht weiter verwunderlich. Erstaunlich ist dagegen, dass der Viehhändler Julius Metzger noch im Alter von 46 Jahren sein Geschäft von Berlichingen nach Öhringen verlegte mit der erklärten Absicht, seinen drei Kindern den Besuch des Progymnasiums zu ermöglichen. Und er stand mit dieser Auffassung nicht allein: Unter den später von den Nazis zur Spottfigur gemachten Viehhändlern war ein ausgemachtes Bildungsbewusstsein vorhanden. Schon die drei in Öhringen geborenen Viehhändler hatten alle die höhere Schule besucht; die beiden Söhne des Viehhändlers Carl Merzbacher sind erfolgreiche Rechtsanwälte geworden; der Viehhändler Isaak Merzbacher schickte alle seine sechs Söhne aufs Progymnasium, obwohl er zehn Kinder zu versorgen hatte. Mit einer Ausnahme haben alle 1925 aufgeführten Viehhändler für ihre Söhne eine höhere Schulbildung angestrebt und nach 1920 zunehmend auch für ihre Töchter.
Populär und selbstbewusst: Siegfried Herz
Auffälligste Persönlichkeit unter den Viehhändlern Öhringens war sicher Siegfried Herz. Er hatte schon früh ein Auto mit Chauffeur, war viel auf Reisen zu großen Viehmärkten und saß mit anderen Öhringer Honoratioren am Stammtisch. Sein verkürzter und der Mundart angepasster Vorname „Siecher“ war weniger Zeichen der Geringschätzung als Ausdruck allgemeiner Popularität. Auf dem Foto vom 18. März 1933 vor dem Amtsgericht ist zu erkennen, dass Siegfried Herz ein stattlicher Mann war, der alle anderen überragte. Wenn ihn seine Brüder, die alle Öhringen verlassen hatten und in Großstädten wie Frankfurt und Nürnberg eigene Geschäfte (im Stoff- und Lederhandel) aufgebaut hatten, fragten, weshalb er in der Kleinstadt Öhringen bleibe, soll er geantwortet haben: „Hier bin ich wer!“
Er war nicht nur selbstbewusst, sondern hat sich schon früh gegen antisemitische Angriffe öffentlich gewehrt, war also im Jargon der Zeit ein „frecher Jude“. Noch der „Unterkommissar der NSDAP für den Bezirk Heilbronn“ versucht in einem Schreiben, das Max Esenwein in seiner „Chronik der evangelischen Kirchengemeinde Öhringen“ (S. 4) überliefert hat, die Gewalttaten vom 18. März 1933 mit dem Hinweis herunterzuspielen, „dass die Öhringer Öffentlichkeit sich seinerzeit nicht entrüstete, als ein SA-Mann von dem Viehhändler Siegfried Herz und einem Knecht blutig geschlagen wurde.
Auf welchen konkreten Vorfall im Schreiben angespielt wird, hat sich nicht mehr feststellen lassen. Durch einen Rückblick der NSDAP-Ortsgruppe Neuenstein auf ihre zwölfjährige Geschichte wissen wir aber von einer anderen Auseinandersetzung, in die Siegfried Herz verwickelt war. Ein Augenzeuge berichtete 1935 in der „Hohenloher Rundschau“ (Nr. 164) von einer Schlägerei im September 1923 im Gasthaus „Zum Ritter:
„Obwohl Juden keinen Zutritt hatten, versuchte der Jude Siecher Herz in den Saal zu gelangen. Er war bereits mit zwei Rassegenossen oben an der Treppe angelangt, als er bemerkt wurde. Da die Umstehenden den Zutritt der Juden erzwingen wollten und nachdrängten, machte unser Treppenschutz ausgiebig Gebrauch von zufällig auftauchenden Farrenschwänzen, wobei die drei Hebräer ihren gebührenden Anteil erhielten. Der Frechste von ihnen, Siecher Herz, wurde mit starker Faust die Treppe hinunter befördert.“
Das Schreiben des Unterkommissars und die Darstellung des ungenannten Neuensteiner „Historikers“ sind noch in einer anderen Hinsicht aufschlussreich, geben sie doch davon Zeugnis, dass Öhringer Juden schon 1923 die Hetze gegen Juden nicht widerstandslos hinnehmen wollten. Wie seine Gegner bezeugen, widerspricht vor allem Siegfried Herz dem Spottbild des feigen und unterwürfigen Juden, wie es die Nazipropaganda so gerne gezeichnet hat.
Reibungsflächen hat Siegfried Herz auch früher schon geboten. Wie sehr sich aber ab 1933 der Ton geändert hat, zeigt ein Vergleich mit einer Leserzuschrift an das „Hohenloher Tagblatt“ vom April 1920. Der Leser beschwerte sich darüber, dass Siegfried Herz am hellen Sonntagnachmittag ein Pferd peitschenknallend die Karlsvorstadt auf und ab gejagt hatte, um es einem Kaufinteressenten vorzuführen. Aus der Zuschrift spricht zwar deutliche Verärgerung, doch ist der Ton gemäßigt und in keiner Weise mit der späteren Hetze vergleichbar. Der Briefschreiber forderte Rücksichtnahme, tadelte aber auch den christlichen Kunden, der die Vorführung ja veranlasst habe.
Bei dem Überfall der SA am 18. März 1933 wurden die zehn Juden, die sich morgens (am Sabbat) in der Synagoge versammelt hatten, verhaftet. Das Haus von Siegfried Herz aber wurde gezielt (angeblich nach Waffen) durchsucht. Da Siegfried Herz noch auf Geschäftsreise war, wurde seine Frau als Geisel mitgenommen. Sie wurde erst gegen Mittag, als Siegfried Herz sich gestellt hatte, freigelassen. Wegen ihrer bisherigen aktiven Gegenwehr richteten sich gegen Siegfried Herz und seinen Knecht August Hartmann, der als „Kommunist und Judenknecht“ beschimpft wurde, die schlimmsten Brutalitäten. Siegfried Herz wurde an Kopf und Wirbelsäule so schwer verletzt, dass ein Arzt gerufen werden musste. Der ihm angelegte Kopfverband ist auf dem schon erwähnten Foto, das von den Opfern am Abend unter dem Licht von Autoscheinwerfern im Gefängnishof gemacht wurde, deutlich erkennbar.
An der Wirbelsäulenverletzung wird Siegfried Herz sein ganzes weiteres Leben lang zu leiden haben.
Natürlich musste Siegfried Herz auch den gespenstischen nächtlichen Zug durch Öhringen anführen, der dem Foto vorausgegangen war. Man hatte ihm ein rotes Tuch um den Hals gebunden und eine improvisierte Fahne in die Hand gedrückt, auf der auf weißem Grund in einen großen Davidstern Hammer und Sichel hinein gemalt waren (ebenfalls auf dem Foto deutlich erkennbar). Schließlich wurde er mit anderen Leidensgenossen nach Heilbronn ins Gefängnis gebracht, von wo er erst am 2. April nach einer Intervention Öhringer Bürger gegen Kaution freikam. Er ging zunächst in ein Sanatorium in Bad Godesberg und floh, als er vor einer erneuten Verhaftung gewarnt wurde, mit Frau und Tochter illegal nach Holland zu einem Geschäftsfreund, ohne noch einmal nach Öhringen zurückzukommen.
Anschuldigungen der Nazis…
Nach diesem 18. März wurde in einem Leserbrief von der „Ortsgruppenleitung der NSDAP Öhringen“ (im „Hohenloher Bote“ vom 21. März 1933) bemerkenswerterweise zugegeben, dass die „Festnahme und Behandlung einiger Juden zum Teil Widerspruch und Mitleid hervorgerufen hat“. Zur Rechtfertigung wurde dann unter anderem darauf hingewiesen, dass „die Kommunisten vom jüdischen Kapital unterstützt“ worden seien. Ohne dass Siegfried Herz beim Namen genannt wurde, waren die nun folgenden Anspielungen auf die vorangegangenen Ereignisse offensichtlich: „Wer solch verbrecherische Pläne (der Kommunisten) mit Geld unterstützt, stellt sich selbst außerhalb der menschlichen Gesellschaft und verdient kein Mitleid, wenn er für diese Schandtat zum Spott seine Sowjetfahne mit dem üblichen roten Tuch um den Hals durch die Straßen tragen darf, es ist ja diese Fahne, welche die Herrschaften selbst bezahlt haben.“ Die gutbürgerlichen jüdischen Unternehmer und Geschäftsleute Öhringens als Kommunistenfreunde und „außerhalb der menschlichen Gesellschaft“ stehend hinzustellend, das sollte die Brutalitäten rechtfertigen, war aber noch für die meisten Öhringer als Parteipropaganda zu erkennen, wie ihre Reaktion „Widerspruch und Mitleid“ zeigte.
In einem zweiten Brief, erschienen am 23. März nach dem Protestbrief der drei Öhringer Pfarrer, mischte die Öhringer Ortsgruppenleitung verbreitete Vorurteile gegen jüdische Viehhändler zu einem Rührstück, ohne zu bedenken, dass nur zwei der Gedemütigten (Siegfried Herz und Gustav Berliner) wirklich Viehhändler waren. Es heißt jetzt: „Wenn Sie glauben, es sei ein paar Juden Unrecht geschehen, dann wollen wir Ihnen aufklärend mitteilen, dass in unserer Geschäftsstelle des Kreises Bauern und Bäuerinnen in Scharen ankommen und erzählen, teils unter Tränen, wie sie durch den und jenen Juden um Hab und Gut gekommen von Haus und Hof vertrieben worden seien und vor einem Nichts stehen. Bei Unterzeichnetem waren heute in solcher Angelegenheit mindestens 14 Personen, gestern ähnlich.“
In dieselbe Kerbe hauten drei (undatierte) Flugblätter, die unter der extra großen und fetten Überschrift „Schuldbuch der Öhringer Juden“ „das unlautere Geschäftsgebaren der Öhringer Juden gebührend an den Pranger stellen“ wollten. Bezeichnenderweise richteten sich alle drei gegen Viehhändler, und wie zu erwarten war, richtete sich gleich das erste gegen Siegfried Herz, der allerdings beim Erscheinen wohl gar nicht mehr in Öhringen weilte. Es ging dabei um eine Maklerprovision, die Herz zweimal kassiert haben soll, ohne eine Leistung dafür erbracht zu haben. Die Polemik schließt mit dem Hinweis: „Jede Post bringet uns täglich neue krasse Fälle von Betrügerei und Bauernschinderei, die gen Himmel stinken. Wir können nicht schnell genug allen Anforderungen gerecht werden und bitten die Bittsteller, sich zu gedulden.“
… und was davon beweisbar ist
Die Vorwürfe gegen jüdische Händler – und damit sind in Öhringen hauptsächlich Viehhändler gemeint – wurden deshalb so ausführlich dargestellt, weil sie auch nach 1945, durchaus in den zitierten nazistischen Formulierungen, verbreitet sind. Die Frage nach Beispielen und Beweisen wird mit dem Hinweis abgetan, es sei heutzutage nicht ratsam, daran zu rühren.
Aus den erhaltenen Unterlagen geht indessen hervor, dass schon in der Zeit des „Dritten Reichs“ genau diese Fragen gestellt worden sind. Im Zuge der „Bereinigung des Viehverteilerstands“ forderte nämlich der „Viehwirtschaftsverband Württemberg“ im Oktober 1937 vom Bürgermeister anhand eines Fragebogens Angaben mit konkreten Einzelfällen über die „Unzuverlässigkeit“ jüdischer Viehhändler. Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer mussten bei der Beantwortung mitwirken. Es wäre spätestens jetzt Gelegenheit gewesen, das angeblich schon seit 1933 gesammelte reichliche „Material“ auszuwerten und die im Flugblatt gegen Siegfried Herz erwähnte „tägliche Post“ mit „neuen krassen Fällen von Betrügerei und Bauernschinderei“ weiterzuleiten. Doch nichts von alledem, schon damals konnte kein einziger konkreter Fall angeführt werden! Der Bürgermeister und seine Helfer konnten sich nur in allgemeine Formulierungen flüchten: „Dass aber Ehrlich viel Unehrlichkeit getrieben hat, ist sicher.“ „Die Geschäftsführung des Hugo Levi hat wie bei allen Juden immer wieder zu Übervorteilungen der Bauern und Ärmsten geführt.“ „Tatsache ist aber, dass Alfred Herz manchen übervorteilt hat, mit dem er handelte.“ Und – bestechende Logik! – „Sein Handel hatte auch so geringen Umfang, dass er mehr als die anderen Juden auf die Übervorteilung anderer angewiesen war.“ In allen Fällen wird stereotyp auf die Akten des Amtsgerichts hingewiesen, die diese Behauptungen angeblich untermauern könnten.
Ansonsten Fehlanzeige: „Von den geschädigten Bauern können keine Aussagen über ihre ungünstigen Erfahrungen mit Alfred Herz angeführt werden. Sie wollen über ihren früheren Handel mit Juden nichts mehr aussagen.“ „Die Bauern halten aus falsch verstandener Ehre mit ihrer Aussage stark zurück.“ „Es ist leider nicht möglich, Einzelfälle über die Unzuverlässigkeit des Juden Ehrlich anzuführen, weil die Bauern hierüber aus falsch verstandener Ehre nichts mehr aussagen wollen.“ Damit hat sich das Gerede von der betrügerischen Vertreibung der Bauern von Haus und Hof schon damals als nazistische Propagandalüge entlarvt!
Aus unserem überraschenden Befund kann doch nur geschlossen werden, dass es mit der „Bauernschinderei“ der jüdischen Viehhändler nicht so weit her gewesen sein kann und dass die Bauern auf ihre Weise in vorsichtige Distanz zur offiziellen „Judenpolitik“ gegangen sind. In dieselbe Richtung weist die Einschätzung des früheren Stadtpfarrers Esenwein: „So mancher Bauer mag den Juden kräftig verschuldet gewesen sein; aber die Bauern machten im Allgemeinen gerne ihre Geschäfte mit den Juden und waren zuerst gar nicht einverstanden, als den Juden später jegliche Handelserlaubnis entzogen wurde“ („Ohrntaler Heimatbuch“, S. 36).
Für diese Ansicht spricht auch, dass es insgesamt fünf Jahre mit massiven Verleumdungen allgemein gegen Juden und speziell gegen jüdische Viehhändler brauchte, dass es steuerlicher Benachteiligung, offener Diskriminierung auf den Viehmärkten und schließlich massiven staatlichen Drucks bedurfte, um die Bauern davon abzuhalten, mit diesen angeblich so halsabschneiderischen jüdischen Viehhändlern noch Geschäfte zu machen. Auch wenn man berücksichtigt, dass sich erst christliche Viehhändler etablieren mussten, ist es doch erstaunlich, dass die letzten jüdischen Viehhändler erst Anfang 1938 „ausgeschaltet“ werden konnten, also zu einer Zeit, in der es in Öhringen schon längst keine anderen jüdischen Geschäfte mehr gegeben hat.
Das letzte Kapitel
Mit einem Inserat in der „Hohenloher Rundschau“ vom 10. November 1936 wurden die jüdischen Händler von heute auf morgen vom Öhringer Viehmarkt ausgeschlossen. „Der Bürgermeister“ ordnete an: „Juden ist verboten, den Markt zu betreten, mit Vieh zu beschicken oder an anderen öffentlichen Plätzen mit Vieh zu handeln.“ Diese ursprünglich vom Gemeinderat beschlossene Maßnahme wurde aber vom Wirtschaftsministerium als „unzulässige Einzelaktion“ kritisiert und wieder aufgehoben (Norbert Stauss: „Monarchie – Demokratie – Diktatur“ in: „Öhringen – Stadt und Schloss“, Öhringen 1988, S. 303).
Und so bezeugt eine etwas unscharfe Fotografie, dass Juden noch 1937 am Rande des Hafenmarktes unter einem großen Schild mit der Aufschrift „Jüdische Händler“ Vieh aufstellen und Geschäfte abschließen konnten.
Eine Willkürmaßnahme war schon Mitte 1935 die Einführung der Umsatzsteuer für Viehhändler, von der jedoch „absolut zuverlässige und ehrbare Händler“ befreit werden konnten. Außer fünf christlichen hatten auch sieben jüdische Händler die Befreiung beantragt. Beim Bürgermeisteramt fragte die „Kreisbauernschaft Unterland“ am 4. Mai 1935 an, „ob irgend ein begründeter Zweifel an der Zuverlässigkeit“ dieser Händler bestehe. In seinem Antwortschreiben vom 11. Mai zeigte der Bürgermeister, dass er die Absicht dieser Maßnahme voll erfasst hatte: „Die jüdischen Händler Ludwig Hirsch, Alfred Herz, Hugo Levi, Julius Metzger, Julius und Leopold Stern Gustav Berliner und Adolf Ehrlich können bei der allgemeinen Veranlagung der jüdischen Rasse nicht als ehrbar und zuverlässig bezeichnet werden.“
Ende 1937 holte der „Viehwirtschaftsverband Württemberg“ zum letzten Schlag aus. Im Zuge der „Bereinigung des Viehverteilerstands“ fragte er nach dem Betriebskapital. Der Bürgermeister berichtete am 21. Oktober 1937 pflichtgemäß: Hugo Levis schon immer geringe Betriebsmittel seien jetzt noch weiter geschrumpft, so dass sein Handel bald zum Erliegen komme. Alfred Herz Mittel seien durch den starken Rückgang des Geschäftsbetriebs so ziemlich aufgebraucht. Adolf Ehrlich habe noch nie ein hohes Betriebskapital besessen und sei immer auf die Hilfe von Verwandten angewiesen gewesen. Leopold Sterns wirtschaftliche Lage sei ungünstig und er genieße keine Kreditwürdigkeit mehr. Als der Verband aber nachfragte, auf Grund welcher Tatsachen diese Aussagen über Leopold Stern gemacht worden waren, muss der Bürgermeister im Schreiben vom 13. November 1937 kleinlaut zurückstecken: „Es ist mir und den anderen beteiligten Dienststellen nichts davon bekannt, dass die Stern ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen wären.“
Danach schweigen die amtlichen Dokumente. In einem Brief vom 26. Februar 1938 stellte der Bürgermeister fest, die vorhandenen vier christlichen Viehhändler würden den Bedarf vollständig decken. Daraus darf man wohl schließen, dass es zu diesem Zeitpunkt in Öhringen keinen jüdischen Viehhandel mehr gegeben hatte.
Die amtliche „Bereinigung des Viehverteilerstands“ Ende 1937 wurde propagandistisch von Presseberichten über „Machenschaften“ von jüdischen Viehhändlern aus Öhringen begleitet. Bauern werden namentlich angeprangert, die „noch sehr gerne mit diesen bekannten Viehjuden Geschäfte machen“. Sollten solche Meldungen der Einschüchterung dienen, so enthüllen sie gleichzeitig, dass sich offenbar immer noch nicht alle Bauern hatten einschüchtern lassen.
Schon im August 1937 war ein Leserbrief erschienen, der beispielhaft die primitive Hetze wiederspiegelt. Der Verfasser berichtet von zwei Personen, die in der Dämmerung auf der Büttelbronner Straße unbarmherzig auf ein Stück Vieh eingeschlagen hätten. Schließlich habe er den „Öhringer Viehjuden Berliner und seinen dicken Sohn“ erkannt. Und dann spricht der anonyme Verfasser ein Urteil, das furchtbar auf ihn selbst und seine Gesinnungsgenossen zurückgefallen ist. Der Brief schließt nämlich mit der Schlussfolgerung, „dass der Jude, wenn er sich unbeobachtet glaubt, seinen verbrecherischen Trieben stets freien Lauf lässt“.
Von den verbliebenen Öhringer Viehhändlern konnten in den Jahren 1938 und 1939 Gustav Berliner, Louis Hirsch, Julius und Leopold Stern jeweils mit ihren Familien in die USA fliehen. Noch mit 79 Jahren konnte sich Elias Heidenheimer nach Israel retten. In dem Deportationszug, der am 1. Dezember 1941 von Stuttgart abging und der die letzten württembergischen Juden nach Riga brachte, waren Ada und Arthur Ledermann, Hugo und Irma Levi, Julius und Emma Metzger, August und Hedwig Thalheimer, Berta Westheimer mit zwei Kindern und Rosa Ehrlich. Adolf Ehrlich war schon am 22. August nach Theresienstadt deportiert worden, während Josef Westheimer am 25. Dezember 1938 an den Folgen seiner Haft im KZ Dachau gestorben war.
Beitragsbild: Pferdemarkt in Öhringen in den 1950er Jahren
Quelle: Archiv Hohenloher Zeitung