Wie Juden in Öhringen lebten

Versuch einer Rekonstruktion

Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung „Die jüdische Gemeinde in Öhringen“ am 17. November 2011 und im Zusammenhang der Verlegung von „Stolpersteinen“ am 21. November 2011
von Walter Meister

Wie die Juden in Öhringen lebten – woher wissen wir das?: von Dokumenten, Überlieferungen, Erzählungen, Meinungen und Urteilen – von den Vorstellungen und Bildern, die wir uns daraus machen und von denen wir überzeugt sind: So war es! – War es so?

Öhringer Bürgern, die erst nach dem Krieg geboren sind, fällt auch heute noch bei dem Stichwort „Öhringer Juden“ in aller Harmlosigkeit sofort ein: „Das waren doch die Leute, die die Bauern um Haus und Hof gebracht haben.“ Und das ist genau die Formulierung, die die Nazis in die Welt gesetzt und in ihrer Propaganda verbreitet haben. Zum Beispiel ist in einem Leserbrief  der Ortsgruppenleitung der Öhringer NSDAP vom 23. März 1933 im „Hohenloher Tagblatt“ (auf den ich noch in anderem Zusammenhang zurückkommen werde) die Rede von den Bauern und Bäuerinnen, „die in Scharen ankommen und erzählen, teils unter Tränen, wie sie durch … Juden um Hab und Gut gekommen, von Haus und Hof vertrieben worden seien …“ Heute seien 14 Personen in solcher Angelegenheit da gewesen, „gestern ähnlich“. 

Bald darauf kam die Probe aufs Exempel. Noch 1933 sind drei Flugblätter in Öhringen verteilt worden mit der fetten Überschrift „Aus dem Schuldbuch der Öhringer Juden“. Und auf jedem Flugblatt werden die „Untaten“ eines Öhringer Viehhändlers dargestellt. Es geht um eine mehrmals bezahlte Maklergebühr und um eine Kuh, die keine Milch gegeben hat – von einem Bauern, der um Haus und Hof gebracht worden ist, ist nirgends die Rede, denn jetzt hätte man ja einen konkreten Fall anführen müssen. Als dann 1937 der Bürgermeister zusammen mit dem Ortsgruppenleiter und dem Ortsbauernführer in einer amtlichen Umfrage genaue Angaben über solche Fälle machen sollte, mussten sie Fehlanzeige melden mit der fadenscheinigen Begründung, die Bauern wollten aus falsch verstandener Ehre nichts mehr aussagen. Ich selbst warte schon seit vielen Jahren darauf, dass man mir wenigstens e i n Beispiel aus der näheren oder ferneren Umgebung nennen kann.

Als ein Volkshochschul-Arbeitskreis unter der Leitung von Reinhard Weber die überlebenden Öhringer Juden ab etwa 1990 anschrieb und um Auskunft über ihr Leben in Öhringen und über ihr weiteres Schicksal bat, hatte auch ich falsche und verzerrte Vorstellungen von der Vergangenheit. Als dann 1993 die Stadt Öhringen und die Kirchengemeinden auf Vorschlag des Arbeitskreises zum Heimattreffen in Öhringen einluden, hatte ich deshalb die Befürchtung, dass auf beiden Seiten ungute Erinnerungen wieder aufgeweckt werden und dass die Schatten der Vergangenheit allzu deutlich wieder hervortreten könnten. Dafür gab es auch gute Gründe. In ihrem Antwortbrief auf unsere Anfrage hatte Trude Ledermann geschrieben: „Obwohl dieser Brief Gesundheit kostet, bin ich bereit zu antworten.“ Lothar Metzger schrieb uns erst nach längerer Zeit, während der er – wie ich später erfuhr – nachts fast nicht schlafen konnte. Sein Fazit: Ich habe keine guten Erinnerungen an Öhringen, weder vor 1933 und erst recht nicht nach 1933. Diese Reaktionen hängen sicher auch damit zusammen, dass beider Eltern unter denen sind, denen wir am Montag einen Stolperstein setzen werden. Sie konnten zwar noch ihre Kinder unter finanziellen Opfern nach Palästina schicken, sie selbst aber kamen nicht mehr von Öhringen weg und gehören zu denen, die im Dezember 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet wurden.

Beim Besuch der ehemals Öhringer Juden kam dann allerdings alles ganz anders als befürchtet: Die Vergangenheit wurde bei den Gästen zwar wieder lebendig, aber sie überdeckte nicht die Gegenwart. Julius Bloch brachte die allgemeine Haltung in einem Brief an den Arbeitskreis zum Ausdruck: „Bis 1936 besuchte ich das Progymnasium. Die ersten drei Jahre waren angenehm, die letzten drei Jahre (ab 1933) waren schrecklich. Ich erinnere mich an viele gute Nachbarn, die anderen will ich vergessen.“ Berti Jakob (geb. Frießner) schrieb nach dem Treffen: „In unserem Alter bleibt unsere Jugendzeit in Öhringen eine schöne Vergangenheit.“ Eine schöne Vergangenheit? – Wirklich?  

Spätestens durch diese und ähnliche Äußerungen war mir klar geworden, dass auch meine Sicht der Vergangenheit viel zu eng war. Wir waren so auf die „schrecklichen Jahre“ fixiert, von denen Julius Bloch schreibt, dass wir die „angenehmen Jahre“ gar nicht in den Blick bekommen haben. Die etwa 70 Jahre des Zusammenlebens von Juden und Christen in Öhringen bestanden nicht nur aus den schrecklichen zehn letzten Jahren. Für die Öhringer Juden war Öhringen vor 1933 voll und ganz Heimat, der sie auch nach 60 Jahren der Trennung noch nachtrauerten. Ihr Besuch in Öhringen war ein Wiedersehen mit der Heimat.

Ich bleibe bei dieser Aussage, auch wenn ich weiß, dass Heinz Bloch vor dem Besuch in einem Brief ausdrücklich betont hatte, Öhringen sei keinesfalls seine „Heimat“, die habe er verloren. Nach dem Besuch schrieb er aber auch einen Satz, den ich auf der Rückseite unserer Broschüre zu den „Stolpersteinen“ zitiert habe: Dieses Treffen habe „Gräben wieder überbrückt, die so viele Jahre offen waren.“ Dabei müssen wir genau lesen: Gräben überbrückt – nicht zugeschüttet! Sein Sohn Dave Bloch schrieb uns dann 6 Monate später, sein Vater sei nach dem Besuch ein ruhigerer und freundlicherer Mensch geworden, der jetzt im Frieden mit sich gestorben sei.

Die Autoren Wolffsohn und Brechenmacher gaben ihrem Buch, in dem sie die Geschichte der deutschen Juden von heute aus in den Blick nehmen, den Titel „Deutschland, jüdisch Heimatland“. Die simple Wahrheit, die in diesem Titel formuliert ist, klingt auch heute noch fast wie eine Provokation.

Die Leidensgeschichte der Öhringer Juden ab 1933 ist in unserer Dokumentation „Jüdische Bürger in Öhringen“ von 1993 in vielen Facetten erfasst worden und kann dort nachgelesen werden. Schwieriger ist es mit der Zeit vor 1933, eben weil sie keine so tiefen Spuren hinterlassen hat. Ich möchte deshalb den Schwerpunkt meines Vortrags darauf legen, darzustellen, was man über das „normale“ Zusammenleben von Juden und Christen in Öhringen heute noch rekonstruieren kann. Weil es aber ein ganz falsches Bild gäbe, wenn ich die „schrecklichen Jahre“ ganz ausklammern würde, auch weil ich die damaligen Ereignisse nicht als allgemein bekannt voraussetzen kann, werfe ich zunächst einen Blick auf die Vorgänge in Öhringen im Schicksalsjahr 1933.

Beobachter sind sich einig, dass in Öhringen in nationalsozialistischer Zeit eine besonders judenfeindliche Stimmung geherrscht hat, die von der Ortsgruppenleitung und der SA angeheizt wurde. Eine Vorstellung davon gibt der Vorfall vom 18. März 1933 und seine Spiegelung in der Presse. Heilbronner SA hatte mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Öhringer Kollegen zehn Juden und sechs Kommunisten bzw. Sozialdemokraten verhaftet, misshandelt und zum allgemeinen Gespött durch die Stadt getrieben. Einer der Verhafteten berichtet später, den Umstehenden sei schnell das Lachen vergangen, einige seien in Tränen ausgebrochen, andere seien weggelaufen, weil sie es nicht mehr mit ansehen konnten (Dokumentation S. 40/41). Das Murren in der Öhringer Bevölkerung konnte selbst die Ortsgruppenleitung der NSDAP nicht überhören und meinte, darauf reagieren zu müssen. In einem Leserbrief vom 21. März im „Hohenloher Tagblatt“ räumte sie unumwunden ein, dass „die Behandlung einiger Juden zum Teil Widerspruch und Mitleid hervorgerufen“ hat. Die Brutalitäten werden dann aber u.a. mit „dem frechen Betragen einiger Festgenommener“ gerechtfertigt. Die drei evangelischen Pfarrer in Öhringen stellen dann in einem gemeinsamen Leserbrief am 22. März fest, dass die Vorgänge „in weitesten Kreisen der Bevölkerung Widerspruch hervorgerufen“ haben und dass „Dinge geschehen sind, die allem rechtlichen und menschlichen Empfinden widersprechen.“ In seiner Entgegnung am 23. März droht der Ortsgruppenleiter nun offen damit, dass die „Säuberungsaktion“ fortgesetzt werde, und verbittet sich „jede kritische Betrachtung energisch“. Trotzdem sucht er nach weiteren Rechtfertigungsgründen und erwähnt dabei auch das, was Scharen von Bauern und Bäuerinnen „teils unter Tränen“ vorzubringen hätten, nämlich dass sie von Juden „von Haus und Hof vertrieben worden seien und vor einem Nichts stehen“. – Der NS-Unterkommissar für den Bezirk Heilbronn pfeift dann allerdings die Meute, die sich nicht nur in Öhringen ausgetobt hatte, zurück: „Die mir bekannt gewordenen Vorgänge in Öhringen vermag ich zwar nicht zu billigen“, teilt er mit, sie seien aber verständlich. Er habe „Vorkehrungen getroffen, dass Wiederholungen nicht mehr vorkommen“ (Esenwein: „Chronik der evangelischen Kirchengemeinde Öhringen“ S. 4).

Der Vorfall und sein Echo in der Presse ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich:

  • Zum einen wird klar ersichtlich, dass die Öhringer in ihrer Mehrzahl keine erbarmungslosen Judenhasser waren, obwohl sie bei der erst kurz vorangegangenen Reichstagswahl vom 5. März mit 54,8 Prozent für die NSDAP gestimmt hatten (und mit 12,3 Prozent für den rechtsradikalen demokratiefeindlichen Kampfbund Schwarz-Weiß-Rot).
  • Der Vorfall zeigt ferner, dass es Ende März 1933 in Öhringen noch eine kritische öffentliche Meinung gegeben hat, die nicht nur die Parteileitung zu einer Rechtfertigung herausgefordert hat, sondern auch noch in der Presse ihren Niederschlag finden konnte.
  • Der Leserbrief der drei Pfarrer ist drittens ein Dokument für eine mutige öffentliche und unzweideutige Kritik in einer Zeit, in der das gerade auch für evangelische Pfarrer nicht selbstverständlich war. Dass ein „eigenmächtiges Vorgehen nachgeordneter Stellen“ vermutet wird, schränkt diese Kritik allerdings wieder ein, machte man sich damit doch Illusionen über die Natur des Nationalsozialismus, indem man unterstellt, das brutale und ungesetzliche Vorgehen sei eine Eigenmächtigkeit der unteren Chargen. Sie folgen damit dem später weit verbreiteten Entschuldigungsmuster: „Wenn das der Führer wüsste…“. Wenn diese Vorfälle tatsächlich zunächst einmal abgestellt wurden, so nur deshalb, weil sie den Interessen des „Führers“ entgegen standen, der als frisch gebackener Reichskanzler international anerkannt werden wollte.
  • Und schließlich belegen viertens die zwei Briefe der Ortsgruppenleitung das aggressive, lügnerische und unverhohlen auf Einschüchterung bedachte Auftreten der neuen Machthaber, die nun in Öhringen den Ton angeben werden. Auch wenn sie diesmal zu weit vorgeprescht sind, ihr wahres Gesicht haben sie doch schon einmal gezeigt.

Beim bald darauf folgenden Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933 wusste die Partei schon eher einen Teil der Bevölkerung hinter sich. „Seit 1933 waren Schmierereien vor und an jüdischen Geschäftshäusern an der Tagesordnung“, schreibt Norbert Stauß in seinem Beitrag „Monarchie – Demokratie – Diktatur. Öhringen 1914 bis 1945“ in dem Sammelband „Öhringen, Stadt und Schloss“ (S. 302). Hielten am 1. April Doppelposten der SA die Eingänge der jüdischen Geschäfte besetzt, so waren es später eifrige Parteigenossen, die die Geschäfte überwachten und Personen meldeten, die sich nicht an das Gebot: „Kauft nicht beim Juden“ hielten. Ihre Namen wurden im Schaukasten der Partei beim Oberamt angeprangert. Von den Käufern, die durch die Hintertür kamen, konnten die jüdischen Geschäfte nicht lange überleben. Noch am längsten halten konnten sich erstaunlicherweise einige Viehhändler, wohl weil sie nur geringe Spesen hatten, weil sie zum Teil schon vorher von geringen Einnahmen leben mussten und weil man ihnen keine Wachposten vor die Türe stellen konnte. Noch 1937, nach Jahren der heftigsten antijüdischen Propaganda gerade auch gegen die Viehhändler, wurden Bauern in der Zeitung namentlich angeprangert, weil sie noch mit „den bekannten Viehjuden“ Geschäfte machten.

„Ein Gang durch Öhringen glich Mitte der dreißiger Jahre für die Juden einem Spießrutenlaufen. Wo sie hinsahen, entdeckten sie antijüdische Parolen.“ Reinhard Weber fasst das Ergebnis seiner Nachforschungen in der „Dokumentation“ mit diesen Worten zusammen. Nicht nur, dass die jüdischen Geschäfte besonders gekennzeichnet waren, auch die sogenannten arischen Geschäfte gaben zu verstehen, dass Juden als Kunden bei ihnen unerwünscht waren. 

Eugen Schlessinger berichtet, sein täglicher Weg zur Post habe ihn schon 1933 an einem Plakat vorbeigeführt, auf dem stand: „Kennt ihr das Volk, das kein Schweinefleisch frisst / und doch dem Schwein am nächsten ist, / das sich vermehrt wie Wanzenbrut ? / Das ist die verdammte Judenbrut!“ Es sei ihm dadurch klar geworden, dass er in Öhringen nicht länger bleiben könne. Schon 1934 zog er zunächst nach Ulm und wanderte 1937 in die USA aus. 

Ein Öhringer Bürger kennt heute noch den Spruch, den er als Kind auf einer Tafel vor dem Bahnübergang in der Friedrichsruher Straße entziffert hat: „Dass der Jud´ noch hier geduld`t, / daran sind nur die Judenknechte schuld.“

Heinz Bloch erinnert sich mit Schaudern an die uniformierten Marschkolonnen, die immer wieder singend durch Öhringen zogen. Vor Häusern, in denen Juden wohnten, hätten sie angehalten, sich vor dem Haus aufgestellt und antijüdische Lieder gebrüllt. Als Kind hätten ihn besonders die Verse „Und wenn vom Messer spritzt das Judenblut/dann geht’s uns noch einmal so gut“ erschreckt und geängstigt.

Dass in Öhringen sich eine so bedrohliche Atmosphäre ausbreiten konnte, lag wohl auch an einigen besonders rabiaten und engstirnigen Parteimitgliedern, die immer wieder vorpreschten. So wurde 1936 an der Pfedelbacher Straße ein Schild aufgestellt, auf dem zu lesen war: „Ohne Juda, ohne Rom / erbauen wir den deutschen Dom.“ Auf Befehl des Kreisleiters musste es wieder entfernt werden – nicht weil es sich gegen Juden richtete, der Kreisleiter hat in seinen Vorträgen zur Rassenlehre genügend zur Hetze gegen Juden beigetragen -, sondern weil die Öhringer Parteigenossen die Katholiken provozieren wollten, deren sonntäglicher Kirchweg nach Pfedelbach an diesem Plakat vorbei führte. 

Aber die Situation in Öhringen war auch in anderer Hinsicht eine besondere: Öhringen hatte 1933 mit 187 von 4600 Einwohnern einen hohen Anteil von 4 Prozent Juden (Schwäbisch Hall hatte 1 Prozent, Württemberg insgesamt unter 0,5 Prozent). Dazu kommt, dass man in einer Kleinstadt lebt, in der es wenig Fluktuation gibt, in der man Tür an Tür wohnt und sich fast alle beim Namen kennen. Dieselben Leute treffen sich auf der Straße, in den Geschäften und in den Vereinen. Deshalb musste man die jüdische Bevölkerung nicht erst mit einem Judenstern kennzeichnen, um sie als Nichtdeutsche und Andersartige ächten zu können, die man besser nicht mehr als Mitbürger und Nachbarn ansah. Deshalb zog, wer konnte, in eine größere Stadt, wo sie niemand als Jude erkannte (wenn sie nicht gleich Deutschland verließen).

Ich möchte nun mit Ihnen einen Zeitsprung von 1933 zurück ins 19. Jahrhundert machen. Die Juden in Württemberg erhielten damals im Zuge ihrer rechtlichen Gleichstellung auch die Niederlassungsfreiheit. Sie zogen aus der Enge der Dörfer in die Städte, weil sie dort mehr Möglichkeiten zur Entfaltung hatten: räumlich, wirtschaftlich und bildungsmäßig. Begünstigt vom wirtschaftlichen Aufschwung im neuen Kaiserreich wuchs die jüdische Gemeinde in Öhringen von 102 Mitgliedern im Jahr 1873 auf  180 im Jahr 1886. Deshalb musste eine Synagoge her, die dann am 29. und 30. März 1889 eingeweiht wurde. Von dieser Einweihung haben verschiedene Zeitungen berichtet.

Bemerkenswert ist, dass zum Festgottesdienst nicht nur ein Kirchenrat von der israelitischen Oberkirchenbehörde in Stuttgart und der Oberrabbiner Dr. Engelbert aus Heilbronn gekommen waren, sondern auch ein Regierungsrat, sämtliche Öhringer Geistliche, der Stadtschuldheiß und der ganze Stadtrat, der Rektor und sämtliche Lehrer des Lyzeums und der Volkschule „sowie eine große Zahl sonstiger Ehrengäste von hier und auswärts“. Das heißt doch wohl: Die Juden, von denen in Öhringen 20 Jahre zuvor erst 8 Personen lebten, waren dort jetzt zumindest „von Amts wegen“ voll und ganz akzeptiert. 

Auf der anderen Seite kapselten sie sich auch nicht ab, sondern suchten die Nähe zur christlichen ebenso wie zur bürgerlichen Gemeinde. Das zeigte sich auch in der Festpredigt des Oberrabbiners Dr. Engelbert, die „vom Geiste der Liebe und Duldung getragen war“, wie in der Zeitschrift „Der Israelit“ zu lesen war. Die „Schwäbische Chronik“ hob hervor, Dr. Engelbert habe in einer „von Glaubenstreue und brüderlicher Nächstenliebe getragenen Sprache die Herzen aller Hörer“ gewinnen können, und der „Hohenloher Bote“ urteilte, die Predigt sei „in würdigstem Ton gehalten und war wohl geeignet, auch Nichtisraeliten zu erbauen“. 

Ein dritter Punkt ist hervorzuheben: Das kirchlich-religiöse Fest ist zugleich ein weltliches Ereignis ersten Ranges. „Abends fand ein aus allen Ständen und Konfessionen so zahlreich besuchtes Bankett im Saale des „Württemberger Hofes“ statt, dass der große Raum beinahe nicht hinreichte“, berichtet wieder „Der Israelit“. Und mit einem Festball im Gasthof „Eisenbahn“ fand die „in allen Teilen wohl gelungene Feier ihren heiteren Abschluss“. Man darf sich schon wundern: Gestern noch auf dem Dorf als Schacher- und Viehjuden geschmäht, heute beim Bankett im renommiertesten Gasthaus der Stadt und beim Ball im größten Saal der Stadt? Auch da müssen wir umlernen: Die einstmaligen Landjuden waren längst auf dem Weg zum bürgerlichen Mittelstand, nicht nur wirtschaftlich und kulturell, sondern auch sozial – und imitierte dessen Verhaltensweisen und soziale Normen. Andererseits soll mit dieser Feststellung nicht geleugnet werden, dass es auch noch in den 20er Jahren durchaus arme Juden in Öhringen gegeben hat, die von Verwandten oder vom Armenverein unterstützt werden mussten.

Ein unerfreulicher Vorfall ist in anderer Hinsicht aufschlussreich. Nachdem der israelitische Kirchenrat beim Bankett einen Toast auf den württembergischen König ausgebracht hatte, erhob sich ein christlicher „Professor“ und tadelte die Versammlung, weil nicht vorher ein Toast auf den Kaiser ausgerufen worden sei. Er meinte, die Juden daran erinnern zu müssen, „dass sie nicht mehr in Palästina, sondern in Deutschland wohnen“. – Es gab also auch damals nicht nur „Friede, Freude, Eierkuchen“, sie hatten auch hier schon ihren Auftritt, die Wichtigtuer und Deutschtümler, die an Palästina erinnern müssen, um hervorzuheben, dass es bei aller rechtlichen Gleichstellung doch einen Unterschied gibt zwischen den jüdischen Deutschen und den „richtigen“ Deutschen. Die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ hat diesen Hintersinn auch richtig herausgehört und betont: „Sie (die deutschen Juden) sind gerade so gut deutsche Vollbürger wie dieser Herr.“

Unseren Befund, dass nämlich die Juden im öffentlichen Leben in Öhringen voll akzeptiert sind, finden wir in den nächsten Jahren bestätigt. Als mitten im 1. Weltkrieg zu einer „Kaiser-Spende deutscher Frauen“ aufgerufen wurde, mit der „unserem doch so friedliebender Kaiser“ „eine Huldigung dargebracht“ werden sollte, findet sich auch ein jüdischer Name unter den sechs Frauen, die stellvertretend den Aufruf unterschrieben haben. Unter den nach dem Alphabet aufgeführten Namen der „Frau Stadtpfarrer“, der „Frau Stadtschultheiß“, der „Frau Major“ und der „Frau Domänendirektor“ hebt sich die bescheidene „Frau Bloch“ deutlich heraus.

Ihr Mann Julius Bloch war 1880 nach Öhringen gekommen und hatte einen „Landesproduktenhandel“ gegründet, womit hauptsächlich ein Mehl- und Getreidehandel gemeint war. Bald gehörte er den Landesproduktenbörsen in Stuttgart und Karlsruhe an. 1906 wurde er Mitglied im Bürgerausschuss des Gemeinderats. Durch sein politisches Wirken und sein vielfältiges Engagement in den Öhringer Vereinen ist er so bekannt geworden, dass er bei der Wahl zum Gemeinderat im Jahr 1913 die höchste Stimmenzahl von allen Bewerbern auf sich vereinigen konnte. Politisch vertrat er den „Volksverein“, eine liberal-demokratische Bewegung. Man kann sich nicht genug wundern, dass in einer Zeit des wieder salonfähig werdenden Antisemitismus – wohlwollend geduldet selbst von seiner kaiserlichen Majestät – ein Angehöriger der jüdischen Minderheit in einer Kleinstadt eine so geachtete Stellung erringen konnte.

Die Familientradition setzt sich im Sohn Ferdinand Bloch fort, der 1919 die Liste der „freien Wählervereinigung“ anführte. Auffällig bei dieser Wahl von 1919 ist, dass auch auf den anderen beiden Listen je ein Jude kandidiert, bei den Sozialdemokraten der Handelsmann Adolf  Ledermann auf Platz 10, bei der Deutschen Demokratischen Partei der Mehlhändler Ludwig Rothschild auf Platz 13. Dass sich unter den insgesamt 40 Kandidaten 3 Juden befinden, zeigt, mit welchen Hoffnungen auf ein freiheitliches und demokratisches Deutschland sie die neue Republik bejahten. Auffällig ist auch, dass der eher wenig begüterte „Handelsmann“ Ledermann die Konkurrenz mit den erfolgreichen Geschäftsleuten Bloch und Rothschild nicht scheut und dass die jüdischen Kandidaten sich auf verschiedenen Listen bewerben. Mit ihrer jüdischen Religion hatte demnach ihre politische Ausrichtung nichts zu tun.

Auf der Liste für die Wahl von 1922 ist Ferdinand Bloch wieder der einzige jüdische Kandidat, diesmal bei der Deutschen Demokratischen Partei auf Platz 4. Platz 1 wird allerdings von „Malermeisters Frau“ eingenommen, der einzigen Frau unter allen Kandidaten insgesamt. Der Spitzenplatz hatte wohl auch einen Demonstrationscharakter. Eine anonyme Zeitungsanzeige kommentiert diese Kandidaturen so: „Bloch, Ferdinand. Auch e i n e r ist schon um 100 Prozent zu viel“ und „Die Frau gehört zum Hausrat und nicht aufs Rathaus“. Wie man sieht, wendete sich die reaktionäre Gesinnung nicht nur gegen die Juden.

Auch für die Wahl von 1925 steht Ferdinand Bloch wieder auf der Liste der DDP, diesmal auf Platz 4. Eine Kandidatin gibt es jetzt allerdings keine mehr – ihr Mann, der Malermeister, steht auf dem letzten Platz bei der DDP.

Heinz Bloch, der Sohn von Ferdinand und Enkel von Julius Bloch, berichtete von seinem Vater: „Es hat ihn sehr hart getroffen, dass er seine Stellung in der Gemeinde nur deshalb verlor, weil er Jude war. Lange wehrte er sich gegen den Gedanken, sein Öhringen und Vaterland zu verlassen und in ein fremdes Land zu gehen. Das hätte meinen Eltern fast das Leben gekostet. In letzter Minute konnten sie in die USA ausreisen.“

Während Juden, die im öffentlichen Leben standen, in der Zeitung oder in Dokumenten Spuren hinterlassen haben, ist es sehr viel schwerer, Aussagen über das private Zusammenleben von Juden und Christen zu machen. Hier und da ergeben sich aber überraschende Einblicke. Der schon genannte Heinz Bloch berichtete auch, ein Lehrerehepaar vom Progymnasium sei mit seinen Eltern befreundet gewesen. Seine Mutter habe es hart getroffen, dass die beiden sie ab 1933 nicht mehr kennen wollten und nicht mehr grüßten. Die Frau wurde später höhere Frauenschaftsführerin. Ich hatte sie beide nach dem Krieg noch als Lehrer. Überraschend ist für mich heute nicht ihre Charakterlosigkeit – da unterscheiden sie sich nicht von vielen anderen -, sondern dass solche Leute überhaupt einmal mit Juden befreundet gewesen sein konnten.

Ein Indiz für viele freundschaftliche und gut nachbarschaftliche Beziehungen ist auch, dass nach dem Krieg viele private Kontakte wieder aufgenommen worden sind, von denen man nur durch Zufall erfahren kann. So ist mir kürzlich ein Briefumschlag in die Hand gekommen, den ich 1961 von einer Freundin meiner Mutter wegen der israelischen Briefmarken bekommen habe. Heute weiß ich, dass die darauf vermerkte Absenderin Helene Perrets die Tochter des Öhringer Viehhändlers Elias Heidenheimer ist, die1933 Öhringen verlassen hat und später nach Palästina ausgewandert ist.

Überrascht haben uns auch die vielen Hinweise unserer jüdischen Brief- und Gesprächspartner auf vielfältige Hilfeleistungen und Zeichen der Solidarität von Familien und Einzelpersonen. Sie sind zum Teil in unserer „Dokumentation“ nachzulesen.

In seinem schon erwähnten Beitrag zur Öhringer Stadtgeschichte 1914 bis 1945 stützt sich Norbert Stauß auch auf die Aussagen vieler Zeitzeugen. Es hat deshalb besonderes Gewicht, wenn auch Stauß feststellt: „Im Jahr 1933 änderte sich das gute Zusammenleben zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung“ (S.301). Das heißt doch, andersherum formuliert: Vor 1933 muss das Zusammenleben von Juden und Christen ganz gut gewesen sein.

Als Sinnbild dieses guten Zusammenlebens könnte man die Fotografie betrachten, die Gretel Kochertaler im Kreis von vier weiteren jungen Damen aus gutem Hause zeigt. Sie haben eine Handarbeit vor sich, während sie der Dame rechts im Bild lauschen, die gerade etwas vorliest. 

Die zweite von links ist Grete Kocherthaler, die Tochter von Max Kocherthaler, der in der unteren Torstraße ein Textilgeschäft besaß.

Ganz vollkommen war diese Idylle allerdings nie. Der Antisemitismus war auch vor 1933 politisch immer vorhanden. Dazu hin gab es auch ganz direkte Reibungsflächen: Nicht nur dass es geschäftlich erfolgreiche und wohlhabende Juden gab, die Neid erregten; Viehhändler liehen in der Regel auch Geld aus und machten sich als Gläubiger nicht gerade beliebt, wenn sie ihr Geld wieder einforderten. Viehhandel überhaupt galt noch bis nach dem Krieg als ein etwas zwielichtiges Geschäft, vielleicht vergleichbar mit dem heutigen Handel mit Gebrauchtwagen. Und wenn Juden am Sabbat im schönsten Sonntagsstaat an arbeitenden Christen vorbeipromenierten, erregten sie auch nicht gerade Begeisterung. Religiöse Mehrheiten reagieren auf Minderheiten leicht mit Ablehnung und Verunglimpfung, das haben früher in Öhringen auch die Katholiken zu spüren bekommen. Eine tief sitzende Judenfeindschaft bei einer größeren Zahl von Öhringern schon vor 1933 wird man aber aus allen diesen Reibereien nicht ableiten können. 

Dieser Befund – wenn er denn so richtig ist – würde Öhringen in ein etwas besseres Licht rücken. Er wird bestätigt in einer Untersuchung des Schweizer Historikers Georg Spuhler mit dem Titel „Gerettet – zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung“, Chronos Verlag, Zürich 2011. Im 1. Kapitel umreißt Spuhler kurz die Situation in Öhringen um 1933, wobei er mit dem distanzierten Blick des Schweizers in Öhringen eine Gesellschaft vorfindet, „in der die jüdische Minderheit weitgehend akzeptiert und integriert war“(S. 29), in der es jedoch auch einen „verbreiteten Antisemitismus gab“, „der sich zusehends verschärfte“ (S. 30).

Wenn aber dieser Befund stimmt, dann ist eine Frage unausweichlich, auf die ich zum Schluss noch kurz eingehen möchte: Weshalb haben so viele Menschen die nach 1933 einsetzende Judenverfolgung so passiv hingenommen? Als Antwort liegt zunächst einmal die Vermutung nahe, in Wirklichkeit habe es nur eine vordergründige Integration der Juden gegeben, die sich bei der ersten Bewährungsprobe als bloßer Schein entlarvte. In seinem Buch „Deutschland, jüdisch Heimatland“ stellt Wolffsohn – sozusagen mit innerlicher Missbilligung – die unbestreitbare Assimilation der jüdischen Deutschen an die deutsche Kultur dar, die er dann als „Selbstaufopferung“ und „religiösen und kulturellen Selbstmord“ verurteilt, weil diese Integration von den christlichen Deutschen immer wieder rüde zurückgewiesen worden sei (S. 9).

Das sehr pauschale Urteil ebenso wie die verallgemeinernde Sprache verraten schon die Schwäche dieser Position. Wie kann es die Integration einer Minderheit geben, wenn sie gleichzeitig von der Mehrheit zurückgewiesen wird? Wie kann Deutschland als „jüdisch Heimatland“ erlebt werden, wenn man doch in Wirklichkeit ausgeschlossen war?

Spuhler sucht nach anderen Erklärungen. Er stellt zunächst einmal fest, „dass die massiven Übergriffe (von 1933) in weiten Kreisen nicht gebilligt wurden“ (S. 31). Genauer wäre wohl, wie wir gesehen haben, die Formulierung: „…dass die massiven Übergriffe in weiten Kreisen heftig abgelehnt wurden“. Er findet die Erklärung für die schließliche Hinnahme der Verbrechen in „der Verbindung von staatlicher Autorität und terroristischer Gewalt“ einerseits und „der Nähe der Eliten zu den staatlichen Autoritäten und ihr damit verbundenes Schweigen“ andererseits (S. 32). Das trifft wesentliche Aspekte, muss aber noch in größeren Zusammenhängen gesehen werden. Verhängnisvoll war nämlich, dass große Teile der Eliten die Demokratie von Anfang an grundsätzlich abgelehnt und die Entwicklung hin zum autoritären Staat zunehmend offener unterstützt haben, so dass sie dessen Wandel zum totalitären Staat zu spät erkannten und ihn dann nicht mehr aufhalten konnten.

Ich möchte am Schluss an der Einsicht festhalten, dass die Öhringer Juden in die Gesellschaft in Öhringen nicht scheinbar integriert waren, sondern in dieser Gesellschaft voll und ganz ihre Heimat gehabt haben und auch künftig hätten haben können. Das Scheitern dieser Integration war nicht von Anfang an vorherbestimmt. Es hatte seine Ursache auch nicht primär im Antisemitismus, sondern war in erster Linie eine Folge des Scheiterns der Demokratie, wodurch es dem Staat möglich wurde, selbst zum Terroristen zu werden. Wir lernen daraus, dass eine gut integrierte Minderheit „in einer Kombination von massiver Propaganda, … staatlicher Autorität und brutaler Gewalt“ wieder ausgestoßen und für vogelfrei erklärt werden konnte, wie Spuhler richtig feststellt (S. 32).

Das sind Erklärungen für die allgemeine geschichtliche Entwicklung. Erklärungslücken bleiben für das private Handeln. Es ist unerklärbar, wie man mit Juden befreundet gewesen sein kann wie jenes erwähnte Lehrerehepaar, um sich dann in allerkürzester Zeit zu deren Verächtern und Verfolgern zu wandeln. Dass wir so etwas nicht verstehen können, ist aber eigentlich ein hoffnungsvolles Zeichen.