Öhringer Juden auf dem Jungfernhof

Als sie nach mehrtägiger Fahrt im Bahnhof Skirotawa ankamen, wurden die Türen aufgerissen. Sie SS war da. „Alles raus, aber schnell!“ Die Ankommenden wurden gestoßen und geschlagen und auf die Straße getrieben. „Aufstellen, marsch!“ Auf vereister Straße schleppten sie sich in der Kälte hin. Manche schafften es nicht mehr. Die ersten Schüsse fielen. Nach etwa drei Kilometern war der Junfernhof erreicht, ein verwahrlostes Gut der Stadt Riga mit fünf kleinen Häusern, Stallungen und Scheunen. Einige Gebäude waren schon besetzt. Die Ankommenden wurden auf Ställe und Scheunen verteilt.

Es war der 4. Dezember 1941. Drei Tage vorher war ihr Zug in Stuttgart abgefahren, Richtung Riga. Auf dem Killesberg hatten sie sich einfinden müssen – einem Befehl gehorchend.
Dort wurden sie gesammelt – Juden aus Württemberg, unter ihnen auch Juden aus Öhringen, die letzten Juden, die bis dahin in ihrer Heimatstadt hoffend ausgeharrt hatten. Einem Befehl gehorchend, waren sie an einem grauen Morgen, Ende November, zu Bahnhof gezogen. In ihrem Gepäck durften sich sogar Werkzeuge und Haushaltsgeräte befinden. Denn man hatte ihnen gesagt, sie würden im Osten angesiedelt werden.

Von dem. was die Juden vom Killesberg auf ihre Fahrt in den Osten mitnehmen durften, war schon bei der Abfahrt nichts mehr vorhanden, nur zur Schau wurden Werkzeuge und Matratzen eingeladen, diese Wagen aber nie an den Zug angehängt.
Man brauchte die Werkzeuge auch nicht mehr. Denn im Jungernhof bei Riga war von einer Ansiedlung keine Rede mehr. Nur noch Grauen, Hunger, Tod. Die Frauen und Kinder kamen in Ställe. Die Männer wurden in einer Wellblechscheune untergebracht, deren Tore sich nicht mehr schließen ließen und deren Dach nur noch aus Resten bestand. Die Männer kampierten praktisch im Freien, sie waren Regen, Schnee und Kälte erbarmungslos ausgesetzt. Die Temperaturen fielen bis unter dreißig Grad.

Die Toten gestapelt

Die Scheune war ausgefüllt mit Schlafkojen, acht übereinander und dazwischen siebzig Zentimeter Abstand. In vielen Kojen lagen Tote, schon tagelang. Es starben so viele, dass sie gar nicht schnell genug weggeschafft werden konnten. Ein Sonderkommando wurde gebildet, das die Toten aus den Kojen zog und abseits der Scheune stapelte, bis man sie begraben konnte. Man brauchte Platz im Jungfernhof, denn ständig kamen neue Transporte. Viele der Deportierten erreichten den Jungfernhof gar nicht. Sie wurden unterwegs auf Lastwagen geladen und fortgefahren. „Birkenwälchen“ – Bikernieki, hieß die Hinrichtungsstätte des Ghettos Riga.
Die Verpflegung bestand aus einer wasserdünnen Suppe, gelegentlich mit ein paar Erbsen oder Karotten. Für morgens und abends gab es ein Stück Brot, zweimal in der Woche zwanzig Gramm Margarine, einmal in der Woche fünfzig Gramm Pferdefleisch. Fischköpfe wurden häufig, trotz größtem Hunger nicht gegessen. Wem es gelungen war, auf einem Arbeitskommando etwas Essbares zu besorgen und bei den strengen Visitationen erwischt wurde, endete am Galgen. Alle Häftlinge mussten dann auch bei grimmigster Kälte stundenlang auf dem Platz stehen und zusehen, wie das Opfer zunächst mit Stockschlägen auf das nackte Gesäß gequält wurde. Wenn es dem Kommandanten gefiel, hing er zur Abschreckung einen zweiten Juden daneben.

Dünamünde

Von den neunzehn Öhringer Juden im Alter zwischen vier und sechzig Jahren kehrte keiner zurück. Wie sie starben, weiß man nicht. Überlebende erinnern sich an den 26. März 1942. Kinder und ihre Mütter sowie alle über Fünfzigjährigen und ganze Familien wurden zu einem Transport zusammengestellt und auf Lastwagen verladen. Wahrheitswidrig wurde mitgeteilt, sie kämen nach Dünamünde, wo sie leichte Arbeit in einer Konservenfabrik fänden. Die jüngeren Männer blieben im Lager. Sie sollten aus dem Jungfernhof ein Mustergut machen. Am Abend kamen die Lastwagen aus Dünamünde mit Bekleidungsstücken zurück. Die Männer mussten die Lastwagen entladen und hatte die Kleider ihrer Frauen und Kinder in Händen. Sie hatten sich im „Birkenwäldchen“ ausziehen und mit dem Gesicht zu einer Grube aufstellen müssen. Alle wurden erschossen.
Unter den Opfern von Dünamünde (das es nie gegeben hat) sollen viele Württemberger gewesen sein und sicher auch Öhringer. Zu denken ist an den vierjährigen Gerhard Einstein und seine dreizehnjährige Schwester mit ihrer Mutter, auch an die fünfzehnjährige Beatrice Westheimer und ihre Schwester Ilse mit Mutter. Vielleicht waren auch die Eheleute Metzger, Ledermann, Thalheimer oder Levi dabei? Gestern noch Mitbürger, Nachbarn, dann nur noch Juden – erschossen, vergast, verschollen. „Jungfernhof“ steht hinter ihren Namen.

Im Brunnen des Finanzamtes

Zurück nach Öhringen:
Nicht mitnehmen durften die jüdischen Öhringer Bürger Bargeld, Schmuck, Sparbücher, Wertsachen aller Art. Das musste mit dem Mobiliar in der Wohnung bleiben. Noch bevor der Deportationszug Stuttgart verlassen hatte, waren die Wohnungen schon amtlich versiegelt. Was an Lebensmitteln vorhanden war, bekam die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt). Das Vermögen verfiel dem Staat. Verwaltung und Verwertung oblag den Finanzämtern. Sie hatten auch die persönliche Habe und die Wohnungseinrichtung zu versteigern, soweit es dafür keine andere Verwendung gab. Der frühere Vorsteher des Öhringer Finanzamtes hat zwanzig Jahre an einem Schreibtisch gesessen, der einem Öhringer Juden gehört hatte. Versteigert wurde das Mobiliar der deutschen deportierten Juden Anfang 1942im Pfandhaus, das sich im Hof des alten Finanzamtes befand. Protokolle darüber sind nicht vorhanden. Vermutlich liegen sie im Brunnen auf dem Gelände des früheren Finanzamtes. In diesem Brunnen modern auch noch umfangreiche andere Akten, die über wirtschaftliche Verhältnisse der Öhringer Juden und ihre Unterdrückung Auskunft geben könnten.
Alle Akten über Öhringer Juden wurden gegen Kriegsende in den wasserführenden Brunnen geworfen. Die Beamten folgten damit einer geheimen Anweisung des Reichsministers der Finanzen, wonach Akten und andere Unterlagen über Juden unverzüglich ausgesondert und vernichtet werden mussten. Dazu gehören auch ausdrücklich alle Akten über Verwertung von Judenvermögen.