Die Familie Israel-Scheuer

Zwei Freunde

Vor dem Wohnhaus der ehemaligen Brauerei Reichert in der Unteren Torstraße hat eine Sitzbank ihren vorläufigen Platz erhalten, „gestiftet von Gerhard Scheuer und seiner Frau Hellen zum Gedenken an Fritz Reichert“. Gerhard Scheuer und Fritz Reichert waren Schulfreunde. Der Jude Gerhard Scheuer flüchtete 1937 vor den Nazis in die USA, Fritz Reichert wurde aktiver Offizier der Wehrmacht. Die Freunde verloren sich aus den Augen, keiner wußte mehr etwas vom anderen – bis zum Jahre 1954.

Gerhard Scheuer trat 1954 seine erste Europareise an. Kaum in Frankfurt, bestieg er ein Taxi und ließ sich nach Öhringen fahren. In der Unteren Torstraße sah er Fritz Reichert, erstmals wieder seit 17 Jahren. Er ließ halten, kurbelte das Autofenster herunter und tat fremd: „Können Sie mir sagen, ob es hier noch den Fritz Reichert gibt?“ Der schaute in das Auto und in ein schmunzelndes Gesicht: „Du Seckel, das bin doch ich!“

So sahen sich zwei Freunde wieder und danach noch viele Male in Öhringen und Poughkeepsie (NY). Aus der Schülerfreundschaft war eine Familienfreundschaft geworden. Wie oft der geschäftlich viel auf Reisen befindliche Gerhard Scheuer in Öhringen war, konnte er bei seinem letzten Besuch nicht genau sagen. Zwanzigmal, dreißigmal…
Zuletzt war er im Januar 1993 in seinem unvergessenen Öhringen. Im Juni wollte er wieder kommen und dann natürlich zum Heimattreffen der Öhringer Juden im Herbst. Aber der Tod kam plötzlich und unerwartet.

Gerhard-Rolf Scheuer wurde 1921 in Öhringen geboren. Sein Vater Heinrich Scheuer war Kaufmann, kam 1920 von Gießen nach Öhringen und heiratete Thekla Israel, die Tochter des Holzhändlers Sigmund Israel. Der aus Ernsbach stammende und mit Natalie Stein aus Crailsheim verheiratete Sigmund Israel war der Begründer der „Stuhlfabrik“, die sich in der Poststraße befand, heute Schuh-Rudolf. Gehandelt wurde mit Stühlen für Gastwirtschaften und mit Bedarfsartikeln für Schreinereien. Die Geschäfte liefen bis 1933 gut. Danach gingen die Aufträge so stark zurück, daß der Betrieb 1936 geschlossen und das Anwesen verkauft wurde. Die Familie Israel-Scheuer verlegte ihren Wohnsitz nach Ludwigsburg. Sohn Gerhard Scheuer ging als Sechzehnjähriger in die USA, seine Eltern folgten 1939.

Heinrich Scheuer war seit 1929 Teilhaber der „Öhringer Stuhlfabrik“ und mußte, da der Schwiegervater Sigmund Israel schwer erkrankte, den Betrieb hauptsächlich führen. Heinrich Scheuer fand aber auch noch Zeit für einen Dienst an der Allgemeinheit. Schon zwei Jahre nach seiner Heirat in Öhringen trat er dem Roten Kreuz bei und tat in der Sanitätskolonne Öhringen Dienst, erhielt 1932 das Ehrenzeichen und wurde ein Jahr später als Jude ausgeschlossen. Im Ersten Weltkrieg stand er vier Jahre lang an mehreren Fronten, wurde verwundet und mit dem EK ausgezeichnet. Alle Verdienste zählten nicht mehr, als ihn die SA am 18. März 1933 ins Gefängnis zerrte und durch die Stadt trieb.

Heinrich Scheuer, Mitglied der Öhringer Sanitätskolonne.

Der Firmengründer Sigmund Israel war 75 Jahre alt und schon längere Zeit ein Pflegefall, als er, seine Frau Natalie und die 1898 geborene Tochter Selma von Öhringen nach Ludwigsburg umzogen. Während Heinrich Scheuer und seine Frau Thekla noch auswandern konnten, fand sich niemand, der eine Bürgschaft für den erblindeten Sigmund Israel übernommen hätte. Er starb Ende 1939 in Ludwigsburg.

Tochter Selma blieb bei ihrer siebzigjährigen Mutter, bis sie selbst 1941 deportiert wurde. Selma Israel, 43 Jahre alt, gehörte zu dem Transport, der am ersten Dezembertag des Jahres 1941 von Stuttgart nach Riga abging. Mutter Natalie schrieb: „Am 27. November 1941 mußte meine gute sorgende Tochter Selma mich verlassen. Ich bin so einsam geworden. Gott helfe ihr, daß sie die Strapazen und die Kälte ertragen kann.“ Niemand hat Selma geholfen.

Aber auch ihre greise Mutter lebte nur noch wenige Tage in Ludwigsburg. Sie wurde zuerst nach Buttenhausen, dann 1942 nach Theresienstadt gebracht und einen Monat später wurde sie am  26. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka verbracht und dort ermordet. Dort starben auch der Öhringer Immobilienmakler Isaak Kaufmann und seine Frau Karoline, wie alle 2001 Menschen des Transportes. .

Beitragsbild oben: Heinrich Scheuer im Gefängnishof am 18. März 1933