Hugo und Eugen Schlessinger

Plakat am Bahnhof:

Kennt ihr das Volk, das kein Schweinefleisch frißt
und doch dem Schwein am nächsten ist?
Das sich vermehrt wie die Wanzenbrut:
Das ist die verdammte Judenbrut!

Der tägliche Weg führte Eugen Schlessinger von seinem Textilgeschäft im „Römischen Kaiser“ zur Post. An einem Morgen des Jahres 1933 las er am Bahnhof ein Plakat: Kennt ihr das Volk… Bestürzt kam er in sein Geschäft zurück, Tränen standen in seinen Augen, als er sagte: Hier kann ich nicht länger bleiben. Schon am 1. April 1933 hatten SA-Männer den Eingang des Textilhauses in der Poststraße blockiert. Nur eine ältere Frau ließ sich nicht abhalten. Andere Kunden kamen durch den Hintereingang.

Eugen Schlessinger wurde 1894 in Öhringen als Sohn des Joseph Schlessinger und dessen Ehefrau Maria geboren. Aus dieser Ehe gingen außerdem Hugo (1891) und Erna (1895) hervor, die 1920 heiratete und nach Stuttgart verzog. Joseph Schlessinger starb 1929 im Alter von 62 Jahren. Er ruht neben seiner 1926 verstorbenen Frau Maria auf dem Öhringer Friedhof. Sie wurde 64 Jahre alt. Auf ihrem Grabstein steht: Sie war ein Vorbild an Mutterliebe. Bestattet sind hier auch Max Schlessinger (1859 – 1921) und dessen Ehefrau Mina geb. Steiner (1867 – 1936). Joseph und Max Schlessinger firmierten als die Inhaber des Textilhauses S. Schlessinger Söhne.

Das Erlebnis am Öhringer Bahnhof bestärkte den Kriegsteilnehmer Eugen Schlessinger noch in seiner Furcht, daß den Juden unter dem neuen System große Gefahr drohe. Er ließ sich von seinem Bruder Hugo die Geschäftsanteile auszahlen, lud seine Angestellten ins Heilbronner Theater zum „Vogelhändler“ ein und zog 1934 mit seiner Familie zunächst nach Ulm in die Heimatstadt seiner Frau Selma, die er 1927 geheiratet hatte. Mit den Zwillingen Günther und Ellen (geboren 1929) wanderten sie 1937 in die USA aus.

Hugo Schlessinger nahm wie sein Bruder Eugen am Ersten Weltkrieg teil, heiratete Selma Strauß aus Heilbronn und hatte mit ihr drei Kinder: Ruth (1923), Marion (1928) und Gert- Albert (1931). Am Anfang der Nazi-Herrschaft schätzte er die Lage für die Juden weniger dramatisch ein als sein Bruder Eugen. Er führte das Textilhaus weiter und hoffte, daß bald wieder andere Zeiten einkehren würden. Mahnungen seines Bruders schlug er zunächst in den Wind.

Tochter Ruth besuchte nach der Volksschule das Progymnasium, das sie 1936 verlassen musste. Ihre Schwester Marion wird als ein bildhübsches Mädchen beschrieben, das aber taubstumm war und in die israelitische Taubstummenschule in Berlin aufgenommen wurde. Als sich Hugo Schlessinger und seine Frau dann doch zur Auswanderung entschlossen, wollten sie ihre taubstumme Tochter mitnehmen. Marion wurde aber von Berlin aus nach London gerettet, der Leiter der Schule hatte eine Gruppe von Kindern nach Großbritannien begleitet. Die zweite Gruppe konnte er in Sicherheit bringen.
Während die Eltern nach Stuttgart zogen und im August 1939 mit Ruth und Gert in New York ankamen und auch noch 1940 angaben, dass ihre Tochter in London „residiere“, wurden Pläne geschmiedet und das Mädchen konnte im Dezember 1944 von Liverpool aus mit dem Schiff Bayano nach Halifax entkommen und von dort in die USA. Marion heiratete 1971 in Los Angeles Samuel Intrator und starb dort 2001 ein Jahr nach ihrem Ehemann.

Quellenzitat für New York, USA, bundesstaatliche und föderale Einbürgerungsregister, 1794-1943

Die Schikanen gegen das Textilhaus nahmen zu. Wer das Geschäft betrat, wurde von Posten aufgeschrieben. Immer weniger Kunden wagten den Weg durch den Hintereingang. Daß ein Lehrling bei Schlessinger seine Prüfung mit einem Preis abschloß, wurde in der Zeitung verschwiegen. Angestellte kündigten, weil sie als Judenknechte beschimpft wurden.

Jetzt hielt Hugo und Selma Schlessinger nichts mehr in Deutschland, Hugo gab auf und verließ mit seiner Familie Anfang 1937 Öhringen, aufgewühlt, erschüttert, unfähig, das Unfaßbare zu begreifen. Von Stuttgart wanderte er zwei Jahre später in die USA aus, wo er als Verkäufer in einem Warenhaus Arbeit fand. 1978 begegnete ihm eine Öhringer Jüdin in Los Angeles, er wohnte in einem Altenheim. Tochter Ruth, 1938 nach England ausgewandert, kam 1939 mit ihren Eltern und ihrem Bruder Gert-Albert in die USA.

In der Familie Hugo Schlessinger lebte seit 1933 Frau Lina Strauß aus Heilbronn, die verwitwete Mutter von Selma Schlessinger. Sie ging, 69 Jahre alt, von Öhringen mit nach Stuttgart, wanderte aber mit der Familie ihrer Tochter nicht aus. Wenige Jahre später wurde sie in ein jüdisches Altersheim in Eschenau eingewiesen und 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie starb.

Ende der 70er Jahren war Hugo Schlessinger in Öhringen. Der hochbetagte Herr betrat das Textilhaus Frank, früher Teil des Kaufhauses Schlessinger. Er ging durch die Geschäftsräume, durch die Wohnräume, erinnerte sich …, wischte sich die Tränen ab und sagte zu Franc Demsar: „Ich wünsche Ihnen ein so gutes Geschäft, wie wir es hatten.“

Die Poststraße mit dem größten Kaufhaus seiner Zeit: Schlessinger & Söhne