Julius Israel

Das Land, das mich verjagte …

In vielen Briefen von Anita Israel- Scheuer lebt auf, wie glücklich sie als Kind in Öhringen war, wie geborgen sie im Kreis ihrer Familie aufwuchs, wie schön es war, in die Schule zu gehen und Freundinnen zu haben. Die Briefe sprechen aber auch davon, wie in der Schule der Hass gegen Juden wuchs, wie sie am Haagweg von Jungen verprügelt wurde – weil sie Jüdin war. „Trotz allem“, so schreibt sie, „Öhringen ist wie in einem früheren Leben, wie ein Märchen. Es war einmal…“

Anita ist die Tochter des 1892 in Ernsbach geborenen Julius Israel und seiner in Stuttgart aufgewachsenen Frau Hildegard Sternberg, geboren 1898. Anita kam 1923 zur Welt, ihr Bruder Helmut im Jahr 1928. Ihr Elternhaus war das „Gelbe Schlössle“. Gekauft hatte es wegen des großen Kellers an der Stadtmauer (heute Buchhandlung Rau) Ferdinand Israel, Anitas Großvater, der schon in Ernsbach mit Pferd und Wagen unterwegs war und mit Wein handelte. Er starb 1928 in Öhringen, seine Frau Hannchen 1933.

Ihr Sohn Julius erlernte in Heidelberg und Straßburg das Weinfach von Grund auf. Sein Teilhaber wurde während des Ersten Weltkriegs Moritz Frießner, der einer Bauernfamilie im unterfränkischen Ermershausen entstammte und Anna Israel heiratete, die Schwester von Julius Israel.

Die Weingroßhandlung Israel und Frießner verkaufte nur Fassweine. Einer der Teilhaber besuchte die Wirte, der andere blieb im Geschäft. Küfer Gabler fuhr jeden Morgen mit Fässern auf einem Handwagen zum Güterbahnhof. Er wurde als Fachmann ebenso geschätzt wie seine Frau, die der Familie Israel noch zur Seite stand, als es „Ariern“ verboten war, Juden Dienste zu leisten. Am Boykott-Tag 1933 stand auch vor dem „Gelben Schlösse“ ein SA-Mann mit dem Schild: „Kauft nicht beim Juden“. Er ließ niemand ins Geschäft, das von diesem Tage an immer weniger Umsatz machte.

Über ihren Vater Julius Israel schreibt Tochter Anita: „Er war ein fleißiger, rechtschaffener deutscher Jude, sehr angesehen in Öhringen. Wir Kinder waren stolz auf ihn. In unseren Augen war er ein Held, der im Krieg dreimal verwundet wurde, sein linkes Bein verlor, mit dem Eisernen Kreuz und mit der Württembergischen Silbernen Verdienstmedaille ausgezeichnet wurde.“ Sein Vaterland zu verlassen, fiel Julius Israel schwer. Als er dennoch keinen Ausweg sah, unternahm er 1937 eine Orientierungsreise nach Palästina. Von dort zurückgekehrt, sagte er: „Alles Sand, kein bissle Schatten, keiner hält sein Wort – nichts für uns.“

Dass es dann doch auf dem schnellsten Weg nach Palästina ging, war durch die Gestapo ausgelöst worden. Sie hatte, während sich Julius Israel in Palästina umsah, die Wohnung in Öhringen durchsucht. Jetzt wollte auch Frau Israel nicht länger in Deutschland bleiben. Im Sommer 1937 zog die Familie nach Stuttgart, wo Frau Israel das Olgastift besucht hatte. Ihre Eltern wohnten nicht mehr dort. Sie waren zu einer Tochter nach Amsterdam gezogen und wurden während des Zweiten Weltkriegs vergast.

Das „Gelbe Schlössle“ wurde an einen Weinhändler aus Kiel verkauft, der aber schon nach einem Jahr Konkurs anmelden mußte. Bei ihrem Wegzug aus Öhringen durfte die Familie Israel außer ihrem Hausrat auch noch ein Radio und einen Pflug mitnehmen, eine besondere Vergünstigung, die dem Frontkämpfer Julius Israel eingeräumt worden war. In Stuttgart erbarmte sich ein Hausbesitzer, der ihm bekannten jüdischen Familie aus Öhringen und gewährte Unterkunft, bis 1938 die Ausreise nach Palästina möglich war. Um in Palästina leben zu können, wurde als erstes der Pflug verkauft, dann kamen Möbel, Porzellan und Kunstbücher an die Reihe. In der winzigen Wohnung war ohnehin wenig Platz.

Julius Israel, der nicht untätig sein konnte, eröffnete 1941 einen kleinen Kolonialwarenladen in einem Dorf, nur durch tiefen Sand zu erreichen. Die Ware mußte auf dem Rücken hingeschleppt werden. Der Laden bot eine bescheidene Existenz. Sie wurde später durch eine Kriegsversehrtenrente verbessert, die seit Anfang der fünfziger Jahre aus Deutschland kam. Zurück nach Deutschland wollte er aber auch dann nicht, als es um eine bessere Beinprothese ging. Er sollte keinen Gipsabdruck schicken, sondern selbst nach Stuttgart kommen. Aber er kam nicht, denn „ein Land, das mich hinausgeworfen hat, betrete ich nicht mehr.“ Julius Israel starb 1967, seine Frau lebte bis 1984.

Sohn Helmut Israel war acht Jahre alt, als er die Volksschule in Öhringen verlassen mußte. Er lernte in der jüdischen Schule in Öhringen und dann in Stuttgart weiter und beendete seine Schulausbildung 1941 in Palästina. Er arbeitete in einer Gemeinschaftssiedlung, fuhr danach als Maschinist zur See und siedelte mit seiner Frau nach Los Angeles über, wo er als Spezialist für Dieselmotoren bei Volkswagen-USA arbeitet.Anita Israel, verheiratete Scheuer, blieb in Israel und wohnt in Giwataim. ln Öhringen besuchte sie die Volksschule und war dann „sehr glücklich, in die Realschule gehen zu dürfen.“ Als sie diese Schule verlassen musste, ging sie in die von Hans Bodenheimer geleitete jüdische Schule „die nur ein-klassig, aber erstklassig war“.

Die Familie Israel vor ihrer Ausreise nach Palästin 1928: Die Eltern Julius und Hildegard mit

In Israel arbeitete sie zwei Jahre in einer Bauernfamilie für Kost und Logis und für ein winziges Taschengeld, das gerade reichte, um ab und zu nach Hause fahren zu können. Mit 17 Jahren begann sie ihre Ausbildung in der Säuglingspflege. Bei einer solchen Pflege lernte sie einen jungen Mann namens Scheuer kennen, der später ihr Ehemann wurde. Das Baby von damals wurde durch die Heirat ihre Nichte.