Als „Küchenhilfe“ nach Riga
Die flüchtig hingeschriebene Notiz „1.12.41 deportiert nach Riga“ schließt auf der Personalkarte des Einwohnermeldeamts den fünfzehnjährigen Aufenthalt der Familie Metzger in Öhringen ab. Ihre Spur läßt sich aber noch einen Schritt weiter verfolgen. Die „jüdische Mittelstelle“ in Stuttgart musste nämlich der Gestapo Vorschläge machen „betr. Leitung und Betreuung des Deportationszugs“. Diese Vorschläge hat die Archivdirektion Stuttgart dokumentiert. Mit bürokratischer Gründlichkeit und zur Täuschung sind neben dem Transportleiter, Krankenschwestern, Sekretärinnen auch die Eheleute Metzger aus Öhringen als „Hilfskräfte für die Gemeinschaftsküche“ aufgeführt. Als Küchenhilfe wurden sie vermutlich nie gebraucht. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Wahrscheinlich sind der damals 60jährige Julius Metzger und seine aus Bonfeld stammende 54jährige Ehefrau Emma mit vielen anderen schon bald nach ihrer Ankunft im Lager Riga-Jungfernhof ermordet worden. Auf 31. 3. 42 sind sie amtlich für tot erklärt.
Julius Metzger (1881) lebte mit seiner Frau Emma (1887) und drei Kindern bis 1926 als Viehhändler in Berlichingen. Nach den Aufzeichnungen, die 1935 am Progymnasium über die Väter jüdischer Schüler angelegt werden mussten, war er von August 1914 bis Dezember 1918 Soldat. Zuletzt kämpfte er als Sergeant in der Ukraine. Über seinen Schwager Falk Herz hatte Metzger schon früh Geschäftsverbindungen nach Öhringen. Der erklärte Grund für den Umzug war jedoch, den Kindern den Besuch einer höheren Schule zu ermöglichen. In Öhringen wohnte Familie Metzger zuerst bei Zimmermann Keck in der Capplerstraße, von 1931 bis 1939 bei Metzger Hornig in der Marktstraße 21, zuletzt gezwungenermaßen bei August Thalheimer, Poststraße 25.
Von 1927 bis 1929 war Julius Metzger Kompagnon in der Viehhandlung seines Neffen Alfred Herz, dann machte er sich selbständig. In guten Jahren betrug das jährliche Einkommen über 5.000 Mark, nach 1933 ging das Geschäft zurück, 1936 warf es nur noch wenig über tausend Mark ab, und 1937 wurde es eingestellt. Zunächst konnte 1938 noch ein Acker für 1.200 Mark verkauft werden, dann lebte das Ehepaar Metzger in recht ärmlichen Verhältnissen, die sich auch nicht besserten, als Julius Metzger 1940 und 1941 als „städtischer Arbeiter“ 25 Pfennig in der Stunde verdiente.
Wie andere Öhringer Juden war auch Julius Metzger nach der Reichspogromnacht ins KZ Dachau gebracht und erst nach vier Wochen wieder freigelassen worden. Bis dahin hatte der deutschnational eingestellte Frontkämpfer noch auf ein schnelles Ende der Naziherrschaft gehofft. Während für die Kinder noch Mittel und Wege gefunden wurden, sich nach Palästina in Sicherheit zu bringen, war es nun für die Eltern bereits zu spät.
Der älteste Sohn Ernst (1915) war von 1927 bis 1930 Schüler des Progymnasiums und schloss im Mai 1933 eine Kaufmännische Lehre bei der Eisenhandlung Scheuer in Heilbronn ab. Seine Tätigkeit als Kaufmännischer Angestellter wurde durch einen Vorfall abrupt beendet. Wohl im September desselben Jahres hatte ein Kind die Bremsen eines Anhängers gelöst, der vor dem Lager der Firma Scheuer abgestellt war. Ernst Metzger konnte den Anhänger noch zum Stehen bringen, hat aber danach dem Jungen „den Hintern versohlt“. Da der Vater des Jungen SA-Führer war, erkundigten sich am nächsten Tag SA-Männer nach Ernst, der zu seinem Glück gerade nicht anwesend war. Ernst fuhr schnellstmöglich mit einem Touristenvisum nach Palästina.
Mina Metzger (1918) besuchte die Realschule und bis 1934 die Städtische Handelsschule. Da sie in Öhringen keine Arbeit fand, half sie zunächst in der väterlichen Viehhandlung und war dann Haustochter in Karlsruhe und Schwäbisch Hall. 1937 folgte sie ihren beiden Brüdern nach Palästina. Sie heiratete Walter Neumann und bekam 3 Kinder. Mina wurde Miryam genannt, sie starb 1974.
Lothar Metzger (1921) musste Ostern 1936 die Realschule verlassen. Mit seinen Klassenkameraden verbindet er keine negativen Erinnerungen, jedoch isolierte und demütigte ihn der Klassenlehrer im letzten Schuljahr, der zugleich HJ-Führer war. Die Eltern meldeten den 15jährigen bei der Jugendalijah an, einer Organisation, die Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren nach Palästina vermittelte. Sie mussten 72 englische Pfund aufbringen, mit denen sie den Aufenthalt in einem Kibbuz für zwei Jahre im voraus bezahlten.
Da Lothar bis zur Abreise eine Tätigkeit nachweisen musste, arbeitete er noch fast ein Jahr auf dem Hof von Heinrich Pfisterer in Steinsfürtle. Pfisterer, ein Freund des Vaters, hat ihn wie seinen eigenen Sohn behandelt.
Die Tochter von Heinrich Pfisterer berichtet uns, dass ihr Vater der Familie Eier brachte und Julius Metzger warnte ihn, dass er das nicht mehr dürfe, weil er beobachtet würde.
Lothar Metzger erinnert sich an eine Begegnung mit seinem ehemaligen Lehrer Studienassessor Dr. Wieland, der ihn eines Nachts in einer dunklen Ecke angesprochen und gewarnt hatte: „Hau möglichst schnell ab von hier!“ Im August 1937 konnte er dann in einer Gruppe von 100 Jungen und Mädchen, darunter auch die beiden Öhringer Gertrud Ledermann und Alfred Kaufmann, legal nach Palästina auswandern. Dort wurden sie auf verschiedene Kibbuzim im Jordantal aufgeteilt, wo sie die eine Hälfte des Tages arbeiteten, die andere lernten. „Ich war sehr glücklich da“, erinnerte sich Lothar Metzger an diese Zeit.
Quellen:
alemannia-judaica zu Öhringens jüdischer Geschichte
http://www.alemannia-judaica.de/oehringen_synagoge.htm unter Mitarbeit von Walter Meister
Personenstandsregister jüdischer Gemeinden in Württemberg, Baden und Hohenzollern
Es gibt Geburten-, Heirats- und Totenbücher.
https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olf/struktur.php?bestand=5632
Eine Besonderheit des Personenstandsregisters ist das Familienbuch.
Hier ein Auszug aus dem Berlichinger Familienbuch zu dem Eltern und Geschwistern von Julius Metzger:
Familienbuch Berlichingen zu Julius Metzger mit Ehefrau und drei seiner Kinder:
Familienbuch Öhringen, Julius Metzger, seine Ehefrau und alle vier Kinder