Richard Kauders

Das Warnsignal

Der am 1. April 1933 vor seinem Schuhgeschäft in der Marktstraße postierte SA-Mann war für Richard Kauders ein Alarmsignal. An diesem Tag waren im ganzen Reich Männer der SA oder SS vor jüdischen Geschäften aufgezogen, um Kunden am Betreten dieser Geschäfte zu hindern. An diesem „Tag des Boykotts“ sah Richard Kauders Unheil kommen. Schon am übernächsten Tag fuhr er nach Stuttgart zur Beratungsstelle für jüdische Auswanderer. Wohin man am schnellsten auswandern könne? Die Antwort: Nach Palästina. Richard Kauders beantragte sofort ein Zertifikat, in einem Land, wo er Bürger 3. Klasse war, wollte er nicht leben.

Als ein Mann schneller, aber auch überlegter Entschlüsse war Richard Kauders bekannt. Doch der impulsive Entschluß, sein Schuhgeschäft aufzugeben und Deutschland zu verlassen, dürfte ihm nicht leicht gefallen sein. Er war 59 Jahre alt, hatte erst sechs Jahre vorher das Haus Merzbacher in der Marktstraße gekauft, zu einem der modernsten Öhringer Geschäfte umgebaut und das größte Schuhhaus in der Stadt mit drei Angestellten eingerichtet. Eine sichere Existenz, die auf Tüchtigkeit und guten Kaufmannsgeist gründete. Auf klare Grundsätze wies ein Schild in seinem Laden hin: Hier wird nichts geborgt.

Der aus Böhmen stammende, 1874 geborene und mit Frida Weil, einer Schwester des Öhringer Metzgers Weil, verheiratete Richard Kauders war 1899 nach Öhringen gekommen. An der Ecke Marktplatz-Marktstraße betrieb er ein Geschäft für Putz- und Modewaren, das er 1927 nach der Eröffnung des Schuhgeschäfts in der Marktstraße aufgab.

Bevor Richard Kauders 1927 sein Schuhgeschäft in der Marktstraße eröffnete, bestand am Marktplatz das Geschäft für Putz-Weiß-Woll-& Modewaren. Hier soll es die schönsten Hüte gegeben haben, erinnert sich eine Öhringerin.

Er hatte in das trotz wirtschaftlich schlechter Zeiten gut gehende neue Geschäft viel investiert. Als er sich 1933 zur Auswanderung entschloß, wollte er sein Lebenswerk in guten Händen wissen. Schuh- Vertreter nannten ihm einen Schuhfachmann aus dem Raum Würzburg: Anton Kleinhans. Beide Männer fassten schnell Vertrauen zueinander. So ging das Schuhgeschäft Kauders in „arische Hände“ über, wie es damals hieß. Als ein Kauders-Sohn in den siebziger Jahren nach Öhringen kam und das Schuhhaus Kleinhans sah, sagte er: „Wenn das mein Vater noch hätte sehen können…“ Dieser war 1945 gestorben.

Richard Kauders war jung nach Öhringen gekommen und hier bald heimisch. Noch Anfang 1933 wurde er für 25jährige Mitgliedschaft im Männerturnverein geehrt. Er gehörte dem Kaufmännischen Verein an und war in dessen Ausschuss gewählt worden. Vier Kinder waren aus der Ehe mit Frida Weil hervorgegangen. Wie ihre Eltern überlebten sie den Holocaust, auch dank des ahnungsvollen Vaters.

Richard Kauders 1917 im Felde

Schon mit 21 Jahren, im Jahre 1920, verließ Irene Kauders Öhringen und heiratete in Karlsruhe einen Schwerkriegsbeschädigten. 1939 wurde ihm der Pfleger weggenommen. Der Kriegsinvalide musste in ein Heim, wo er schon eine Woche später an „Lungenentzündung“ starb. Irene Kauders, seine Frau, verbittert über ein solches Deutschland, wanderte in die USA aus, heiratete einen aus Deutschland stammenden Mann und wurde 92 Jahre alt.

Ihre Schwester Cilia ist eine der wenigen Öhringer Jüdinnen, die noch Kontakt zur alten Heimat pflegt und die auch in mehreren Briefen schildert, wie es ihr und ihren Angehörigen ergangen ist. Cilia wurde 1917 geboren, besuchte nach der Volksschule von 1927 bis 1933 das Progymnasium. Da sie am Gymnasium Heilbronn nicht mehr aufgenommen wurde, fing sie bei Gärtner Hirth eine Lehre an, brach sie aber ab, um Ende 1933 mit ihren Eltern nach Palästina auszuwandern. Bis zu ihrer Heirat mit Kurt Grünewald half sie ihren Eltern im Haushalt. Ihr Vater arbeitete „schwarz“ in einem englischen Militärlager und später in Tel-Aviv als Kaufmann. In einem ihrer Briefe steht: „Glauben Sie aber nicht, dass unser Leben hier leicht war… aber es war besser, als in der Gaskammer zu enden.“

Cilia Kauders hatte zwei ältere Brüder. Der 1902 geborene Bruder Willy wurde Bankkaufmann, arbeitete als Revisionsbeamter in Berlin und dann in Mailand. Als ihm auch in Italien Gefahr drohte, wollte er nach Palästina, konnte aber nicht mehr einreisen und kam schließlich auf Umwegen nach Indien. In Bombay heiratete er eine Frau aus Breslau. Die englische Armee beschäftigte ihn als Dolmetscher für italienische Kriegsgefangene. Hach dem Krieg lebte er in New York, wo er 1979 starb, im gleichen Jahr wie sein Bruder Kurt.

Der 1904 geborene Kurt Kauders war nach den Aussagen seiner Schwester Cilia schon früh ein Zionist, der für einen eigenen Staat der Juden eintrat. Er wanderte schon vor seinen Eltern nach Palästina aus. Ausschlaggebend für die schnelle Abreise war ein Erlebnis am 1. April 1933 vor dem Geschäft seines Vaters.

Der dort aufgezogene SA-Posten wollte ihn daran hindern, das jüdische Geschäft zu betreten. Als er sagte, er sei der Sohn, ließ man ihn durch. Aber er hörte den SA-Mann drohend sagen: „Wir sprechen uns noch…“ So war er schon in Palästina, als seine Eltern mit der 16jährigen Cilia ankamen. Die Mutter Frida lebte nur noch zehn Jahre. Sie war in den letzten Jahren blind und starb nach langer Krankheit 1943, 70 Jahre alt, zwei Jahre vor ihrem Mann Richard Kauders.